Im Kreuzfeuer. Christian WehrschützЧитать онлайн книгу.
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9) Slowenien hat eine zahlenmäßig unbedeutende italienische und ungarische Minderheit, die umfassende Rechte genießt. Die etwa 150.000 Serben, Kroaten und Bosniaken haben derartige Rechte nicht, doch politisch spielen sie keine separatistische Rolle, obwohl sie ihre Rechte zunehmend einmahnen. In Kroatien wiederum ist die nationale Homogenisierung ein Ergebnis des Krieges, wobei die Minderheiten breitgefächerte Rechte genießen. Zwar sind die Serben nach wie vor unzufrieden, doch einer ihrer Vertreter ist stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett Sanader II.
10) DUČIĆ, Jovan: „Die Jugoslawische Ideologie“, Der Aufsatz ist veröffentlicht in dem Sammelband „Verujem u Boga i u srpstvo“ (Ich glaube an Gott und an das Serbentum), Belgrad 1999, S. 74; der Aufsatz ist in dem Sammelband nicht datiert, doch aus dem Inhalt geht hervor, dass der Aufsatz zwischen Sommer 1941 und Dučićs Tod in den USA im April 1943 verfasst worden sein muss.
5.
„Točno – Tačno“
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“
Ludwig Wittgenstein „Tractatus logico-philosophicus“
Sitzung der bosnischen Wahlkommission vor einem „dreisprachigen“ Plakat
Mitte Juni 2008 fand in Brdo bei Krainburg/Kranj in Slowenien das Gipfeltreffen zwischen der EU und den USA statt. Eine bunte Schar von Journalisten bevölkerte das Pressezentrum, und die EBU, die European Broadcasting Union, war gemeinsam mit dem slowenischen Staatsfernsehen für die technische Abwicklung zuständig. Das betraf den Schnitt der Beiträge aber auch die Liveeinstiege, bei denen der Journalist als Analytiker oder Kommentator selbst zu sehen ist. Für diese Direktübertragung waren zwei nebeneinanderliegende Kamerapositionen aufgebaut. Das EBU-Team und daher auch der Kameramann kamen aus Serbien, aus Kostengründen und natürlich auch wegen der geografischen Nähe zu Slowenien. Meinen Liveeinstieg wickelte ich zeitgleich mit einem deutschen Kollegen ab. Bis zum Beginn der Sendung unterhielt ich mich mit dem Kameramann; das hörte auch mein Nachbar, der seine Sendeleitung darüber folgendermaßen aufklärte: „Ich bin nicht allein hier; neben mir steht der Kollege des ORF, der sich gerade auf Slowenisch mit dem Kameramann unterhält.“ Doch es war nicht Slowenisch, sondern Serbisch, denn der serbische Kameramann war des Slowenischen gar nicht mächtig.
Das Unvermögen, Serbisch von Slowenisch zu unterscheiden, sei dem Kollegen nachgesehen, kam er doch aus Brüssel und nur zur Berichterstattung nach Brdo. Doch diese Unkenntnis ist kein Einzelfall, sondern eines von vielen Beispielen, wie gering das Wissen von vielen Journalisten, aber auch von Politikern und erst recht aller „Nicht-Balkanesen“ war und ist, die über das Schicksal des ehemaligen Jugoslawien zu berichten oder zu bestimmen hatten und haben. Unkenntnis (und Desinteresse) der Entscheidungsträger ist für mich daher auch einer der Gründe, warum es zum blutigen Zerfall des Tito-Staates kam. So erzählte mir vor vielen Jahren ein ehemaliger österreichischer Spitzenpolitiker über ein Gespräch, das er Anfang der 1990er Jahre mit einem belgischen Kollegen in Brüssel führte. Etwa eine Stunde lang bemühte sich der Österreicher, dem Belgier die verworrene Lage zu erklären, um schließlich mit dem Satz konfrontiert zu werden: „Ich verstehe den Konflikt immer noch nicht, denn die sprechen doch eh alle Jugoslawisch!“ „So wie Sie hier Belgisch“, lautete die ironische Antwort des Österreichers.
„Jugoslawisch“ hat es im Vielvölkerstaat Jugoslawien nie gegeben, wohl aber eine Sprachenpolitik, die versuchte, der nationalen Vielfalt Rechnung zu tragen und gleichzeitig die Einheit des Landes zu stärken. So lernten die Slowenen Slowenisch, die Mazedonier Mazedonisch, beides Sprachen, die sich doch recht deutlich voneinander und vom „Serbokroatischen“ oder „Kroatoserbischen“ unterscheiden, das in Serbien, Kroatien, Bosnien und Montenegro gesprochen wird. Serbokroatisch, das zur Gruppe der sogenannten südslawischen Sprachen gehört, war denn auch die Verkehrssprache im alten Jugoslawien. Diese „Lingua franca“ wirkt heute noch nach; beobachten lässt sich das bei Treffen zwischen Slowenen und Mazedoniern der älteren Generation, die sich dann des Serbokroatischen und nicht des Englischen bedienen. Doch auch diese Verkehrssprache hatte ihre Besonderheiten. Zunächst wurde sie mit zwei Alphabeten geschrieben. Die Kroaten bedienten und bedienen sich des lateinischen Alphabets, die Serben lernten und lernen in den Grundschulen aber auch das kyrillische Alphabet, und offizielle staatliche Publikationen wie zum Beispiel Gesetze werden in Serbien in kyrillischer Schrift gedruckt.
Serbokroatisch – Kroatoserbisch?
Dieses kyrillische Alphabet ist übrigens in seiner Entstehungsgeschichte zutiefst mit Österreich verbunden, denn der Vater der serbischen Schriftsprache, Vuk Karadžić (1787–1864), war mit einer Österreicherin verheiratet und verbrachte den Großteil seines Lebens in Wien, wo er auch starb. Erst 1897 wurden seine sterblichen Überreste nach Belgrad überführt und dort beigesetzt. Auch die erste serbische Grammatik wurde in Wien gedruckt.
Der zweite große Unterschied liegt in der Schreibweise, die sich auch auf die Aussprache auswirkt. So sprechen die Kroaten die ijekavische und die Serben die ekavische Variante; die Kroaten sagen daher rijeka (Fluss) oder svijet (Welt), die Serben jedoch reka und svet. Der dritte Unterschied besteht in historisch gewachsenen Ausdrucksweisen und beim Serbischen im großen Einfluss türkischer Wörter, die in die Sprache eingegangen sind. So sagen die Kroaten točno (genau), kruh (Brot), sretno (froh), die Serben sagen tačno, hleb und srečno. Doch die Serben sagen auch komšija (das türkische Wort für Nachbar), die Kroaten sagen susjed, ein Wort, das auch in anderen slawischen Sprachen vorkommt. In einem Lehrbuch der serbokroatischen Sprache1) ist der jeweils andere Ausdruck in Klammern angeführt. Über die serbokroatische Sprache heißt es in der Einleitung:
„Im Lauf der Geschichte haben sich Zagreb und Belgrad zu politischen, Kultur- und Literaturzentren entwickelt, denen zwei Varianten der Schriftsprache entsprechen. Der Hauptunterschied ist lautlicher Art und besteht in der Verwendung der ije- bzw. e-Mundart; daneben gibt es gewisse Unterschiede im Wortschatz, an die man sich an Ort und Stelle leicht gewöhnt.“
Das ist völlig richtig, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Doch es muss auch die Bereitschaft dazu vorhanden sein; denn einem Kroaten fällt es eben (unangenehm) auf, wenn man statt „dobar tek“ (Mahlzeit) „prijatno“ sagt. Für den Ausländer sind diese Unterschiede meistens nicht fassbar, und auch der Anfänger hat noch im wahrsten Sinn des Wortes kein Ohr dafür. Als ich in der Oberstufe meiner Gymnasialzeit in Graz einige Zeit das Freifach „Serbokroatisch“ besuchte, erzählte ich freudig einem Kroaten, dass ich nun Serbokroatisch lerne. Die Antwort fiel für mich verblüffend aus: „Diese Sprache gibt es nicht. Es gibt nur Serbisch oder Kroatisch.“ Das Gleiche hätte ich wohl auch von einem Serben hören können. Trotzdem kann ich Serbisch, Kroatisch, Bosnisch und Montenegrinisch im Grunde nur als eine Sprache begreifen – alle Linguisten mögen mir verzeihen – denn ich habe nur „Serbisch“ gelernt, kann mich aber überall verständigen und die Zeitungen all dieser Länder lesen. Unbestritten ist jedoch, dass jeder Staat und jedes Volk seine Sprache so nennen kann, wie das von der Mehrheit der Bevölkerung gewollt wird. Doch ich bin Journalist, nicht Linguist, und in dieser Darstellung geht es nicht um Linguistik, sondern um die praktischen und politischen Aspekte der Sprachenfrage.
Zur Illustration soll hier ein Witz, der unter Belgrader Taxifahrern kursiert, herhalten: Ein Kroate fährt in Belgrad mit dem Taxi, will schließlich zahlen und fragt nach dem Preis: „Tri hiljade Dinara (Dreitausend Dinar) antwortet der Taxifahrer. „Koliko je to u tjsucima“ (Wie viele Tausend sind das?), fragt der Fahrgast, das kroatische