Der gute Mensch von Assuan. Peter S. KasparЧитать онлайн книгу.
raubten einfach die anderen Flüchtlinge aus.
Iris schaute sich das Treiben noch zwei Tage an, dann war auch ihr Gesicht wieder einigermaßen abgeschwollen.
›Bring mich zu Essam!‹, sagte sie, und sie sagte es in einem Ton, der keine Widerrede zuließ.
Ich versuchte es dennoch. ›Liebling, wie können nicht beide hier weg. Entweder verlieren wir den Platz oder unsere ganzen Habseligkeiten. Wir können doch hier nichts liegen lassen.‹
Sie lächelte nur und meinte: ›Wir können.‹ Sie wandte sich an eine junge Frau, die mit drei Kindern und ihrem Mann das Lager neben uns aufgeschlagen hatte: ›Ada, hast du ein Auge auf unser Zeug hier?‹ Die junge Frau strahlte vor Freude, dass sie von Iris nicht nur angesprochen, sondern auch noch mit einem Auftrag beehrt wurde. Ich staunte nicht schlecht. Sie flüsterte mir zu: ›Der Kleine hatte Durchfall, nichts Ernstes. Ich hab’s geschafft, ein wenig Blockschokolade und etwas Holzkohle zu organisieren – und weg war der Durchfall. Seither hält sie mich für eine Wunderheilerin.‹ Sie zuckte mit den Schultern.
Wir kamen zu Essam. Er erkannte auch Iris gleich wieder. Sie bedeutete mir ziemlich barsch, dass ich mich wieder in die Halle begeben sollte. Ich war völlig vor den Kopf gestoßen, ging aber wieder zurück.
Eine halbe Stunde später kam sie wieder zurück und hatte die Lippen zusammengekniffen. Ich fragte sie, was denn nun gewesen sei.
›Geschäfte‹, murmelte sie nur und drehte sich von mir weg.
In der Nacht gab es einen großen Tumult. Tumulte waren an sich nichts Außergewöhnliches. Aber dieser hatte es wirklich in sich. Offensichtlich handelte es sich um eine Art Bandenauseinandersetzung. Ich hörte Schreie, Schläge und dann ein fürchterliches Knirschen, gefolgt von einem markerschütternden Schmerzensschrei. Dann nur noch leises Wimmern, wie von einem jungen Hund, das fast die ganze Nacht anhielt. Als endlich der Morgen ein klein wenig Licht in die Halle sandte, sprang Iris auf, zog mich hoch und kämpfte sich mit mir durch ein Labyrinth schlafender Leiber. In der Mitte der Halle blieb sie stehen. Da lag John, den rechte Arm abgeknickt, und schien offensichtlich noch Höllenqualen zu leiden. Sein Kumpan lag zur Seite gerollt, zusammengekrümmt und röchelte. Die beiden waren in der Nacht von einem Rollkommando übelst zugerichtet worden. Iris sah verächtlich auf John hinunter, spuckte auf den Boden und dreht wieder um. Ich rannte ihr hinterher.
›Du … du hast das gewusst?‹, fragte ich atemlos.
Sie blieb stehen, sah mich an, umarmte mich und sagte: ›Es ist lieb von dir, wie du dich für uns beide abschuftest. Aber so werden wir nie nach Europa kommen. Schau dich doch um. Es kommen nur die durch, die hart genug sind. Die Weichen gehen hier drauf, gnadenlos. Bitte bleib du beim Lager. Das Geschäft ist noch nicht abgeschlossen.‹
Diesmal blieb sie länger weg. Es dauerte über zwei Stunden, bis sie wieder da war. Sie brachte genau 687 Dollar zurück. Sie sagte nur lapidar: ›Es ist Zeit zum Packen.‹
Eine Stunde später kam ein Libyer, der etwa 250 Menschen aus der Halle holte. Sie alle waren bereit, 1 000 Dollar oder mehr für ein Schiff zu bezahlen, dass sie nach Italien bringen würde. Wir gehörten offensichtlich dazu.
›Woher hast du das Geld?‹, wollte ich wissen und fürchtete gleichzeitig die Antwort. Sie hatte 687 Dollar, aber woher hatte sie die 2 000 Dollar? Von Essam? Wofür?
Sie schien zu ahnen, was ich fürchtete, doch ihre Antwort zerstreute meine Zweifel nicht. ›Frage mich niemals, was gestern und heute passiert ist. Wage es nicht!‹, stieß sie mir mit einem Zorn entgegen, den ich selbst bei ihr noch nie erlebt hatte. Doch das Misstrauen nagte nun an mir.
Unser alter, schweigsamer Freund Mo, den ich in den Wochen hier an der Küste nur selten gesehen hatte, hatte es offensichtlich auch irgendwie geschafft, an ein Ticket zu kommen. Wie, das sagte er nicht.
Ich versuchte die Zweifel niederzukämpfen und beschloss, mich trotz aller möglicher Gefahren, auf die Seereise zu freuen. Mir wurde plötzlich klar, wie sehr ich das Meer, das mich mein Leben lang begleitet hatte, vermisste. Die letzten Wochen war ich zwar auch nah an der Küste gewesen, vom Wasser hatte ich allerdings nichts gesehen. So beschwerlich diese Schifffahrt auch sein mochte, für mich bedeutete sie eine willkommene Abwechslung.
Wir kamen zum Hafen und ich sah eine blaue Barkasse, etwa 12 bis 15 Meter lang und kaum drei Meter breit. Für mich war es völlig klar, dass sie uns zu unserem Schiff bringen würde, mit dem wir nach Italien reisen sollten. Die Barkasse würde sicher dreimal fahren müssen, bis alle auf dem Schiff waren. Sicherlich lag es irgendwo da draußen auf Reede. Allerdings hätte man es doch sehen müssen.
Ich betrachtete die Barkasse mit Kennerblick und mir fiel sofort auf, dass sie dringend eine Überholung nötig hatte. Die Planken waren zum Teil morsch, die Farbe blätterte überall ab. Na, bis zu dem Schiff würde es uns wohl noch tragen.
›Na, willst du es dir nicht nochmal überlegen‹, hörte ich neben mir plötzlich Gabriel fragen, ›jetzt, wo du das Boot gesehen hast?‹
Ich lachte herzlich. ›Das wird schon nicht das Boot sein. Das ist doch eine Hafenbarkasse. Die sind doch nicht seetüchtig.‹
›Na, du wirst dich wundern‹, erwiderte Gabriel leichthin.
›Was tust du überhaupt hier, wolltest du mich verabschieden?‹
›Nein, ich fahr mit, ich riskiere es.‹
›Nach allem, was du erzählt hast?‹
Gabriel tat ganz verschwörerisch. ›Naja, seit dem Sturz Gaddafis hat sich einiges geändert. Die schicken jetzt keine Flugzeuge mehr zurück nach Tripolis. Das heißt, die Gefahr, in der Wüste ausgesetzt zu werden, ist jetzt auch nicht mehr so groß. Zudem weiß ich jetzt, was man tun muss, damit man drüben in Italien so schnell wie möglich aus dem großen Käfig wieder rauskommt und sich frei bewegen kann.‹
›Und würdest du dieses Wissen eventuell mit mir teilen?‹, fragte ich ein wenig hochmütig, aber durchaus auch neugierig.
›Du musst nur behaupten, dass du aus dem Sudan kommst.‹
Ich lachte hell auf. Dann deutete ich mit dem Finger auf ihn.
›Das nimmt dir doch kein Mensch ab, dass aus dem Sudan kommst. Dir sieht man den Südafrikaner doch schon meilenweit an.‹
Gabriel sah mich mitleidig an. ›Glaubst du, die Italiener können uns unterscheiden? Für die sehen selbst Nuba und Pygmäen gleich aus. Es wird funktionieren, glaub mir.‹
Zumindest in anderer Hinsicht begann ich ihm zu glauben. Denn inzwischen hatte der Beladevorgang begonnen. Tatsächlich sollten alle 250 Menschen auf das Schiff. Wie sollte das funktionieren? Die Barkasse hatte am Bug einen kleinen Raum, in dem normalerweise Taue untergebracht wurden. Er war kaum mehr als einen Meter zwanzig hoch und umfasste keine sechs Quadratmeter. Die Schlepper pferchten über 20 Menschen dort hinein. Außerdem gab es auch über der Bilge, direkt vor dem Motor noch Platz. Wir wurden in dieses Untergeschoss verfrachtet. Ich hörte Gabriel nur leise fluchen. Ich wusste auch, was ihm Sorge machte. Sollte das Schiff in Seenot geraten, wären wir die letzten, die hier herauskämen.
›Es hat auch etwas Gutes. Das Schiff hat keine Sonnensegel und wir haben Juli. Das wird ganz schön heiß da oben‹, versuchte ich ihm Mut zu machen. Doch als wir dort unten eingepfercht wurden, bereute ich schon wieder, was ich gesagt hatte. Wir hatten kaum noch Platz uns zu bewegen. Es war eng und stickig und natürlich kroch die Hitze auch schnell durch alle Ritzen hier herunter. Unter der Bilge sammelte sich öliges, brackiges Wasser.
Der Motor sprang an und erfüllte den Raum mit einer infernalischen Geräuschkulisse, einem Krach, den wir jetzt die nächsten Tage ertragen mussten. Außerdem gab nirgendwo ein Klo. Selbst wenn es eines gegeben hätte, man hätte es nicht erreichen können. So dicht waren die Menschen gestapelt. Ich hatte in einem Museum in Dakar einmal die Zeichnung vom Inneren eines Sklavenschiffes gesehen. Das unterschied sich nicht sehr von unserer Situation. So etwa stellte ich mir den Vorhof der Hölle vor.
Immerhin: Jeder von uns hatte eine Zweiliterflasche Wasser erhalten.