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Der verborgene Dämon. Detlef AmendeЧитать онлайн книгу.

Der verborgene Dämon - Detlef Amende


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eher unter die Chronisten. Mit Poesie hat‘s Vater dann doch nicht so“, spöttelt Lisha und ergänzt: „Aber wir helfen dir auch – wenn du magst!“

      „Na ja, Kinder, wenn ich einigermaßen objektiv berichten will, dann werde ich auf eure Hilfe auch angewiesen sein. Die eigene subjektive Sicht kann man mit noch so viel Abstand zur Realität zu schärfen versuchen, aber umfassender wird sie deshalb nicht. Eure Erfahrungen in Lagos, Bukarest oder Tianjin sind doch vielfältiger als das, was ich in dieser Zeit in Deutschland erlebt habe“, und füge leise und mit leicht gesenktem Blick hinzu: „Yvonne kann ich ja nicht mehr fragen.“

      „Wie willst du’s denn angehen, Vater?“, interessiert Gernot sich, ohne auf meine vorangegangene Bemerkung einzugehen. „Ich habe noch einige Zeitschriften aus meiner Studienzeit, die du auch auswerten könntest.“

      „Na, mal langsam.“ Ich bremse die beiden, die sich offenbar freuen, dass ich der mir von Jamina angetragenen Aufgabe mit Schaffensdrang entgegensehe. Die zwei beargwöhnen jedes Mal meinen gelegentlichen Müßiggang, den die geringe Größe unseres Vorgartens oder auch mein nicht mehr ganz so taufrischer Zustand von Zeit zu Zeit nach sich ziehen. „Ein Tagebuch jedenfalls wird’s nicht. – Was ich aufschreibe, ist ja nicht egal. Aber es ist egal, an welchem Tag.“ Nur fertig werden muss das Buch, bevor mich die Raben holen, murmele ich in mich hinein. Der vertraute Griff des Gehstocks gibt mir beim Aufstehen etwas Sicherheit und Gernot hilft mir bis auf die ersten Stufen der Treppe. „Schlaft gut, Kinder!“ Oben angekommen, gehe ich zum Schlafzimmer. Der Sturz vorhin hat meinen Stolz verletzt, so etwas ist mir seit Ewigkeiten nicht passiert. Immer noch schmerzt der Kopf und die Knie zittern. Beim Zubettgehen wird mir meine Verletzlichkeit bewusst und dass ich womöglich nicht mehr viel Zeit habe. Mann, Mann, ich werde mich anstrengen und zügig arbeiten müssen, wenn ich alles aufzuschreiben will. Auch Methusalems beißen irgendwann mal ins Gras.

      Auf der rechten Seite liegend schlage ich die Augen auf. Ein neuer Tag. Mein Blick richtet sich zum Kopfende, wo auf dem Nachttisch ein halbleeres Glas Wasser wartet und der uralte Wecker mit beruhigender Regelmäßigkeit vor sich hin tickt. Viertel nach sieben. Ein Moment vergeht, bevor die letzten Traumwirren aus dem Kopf verschwunden sind. Beide Knie angezogen, stütze ich mich ab und schwenke in den aufrechten Sitz. Die Füße kommen so genau an den ebendort gestern Abend stehen gelassenen Pantoffeln an. Alter Perfektionist, grinse ich und mustere die unförmigen Zehen. Mittlerweile habe ich diese Verstümmelungen akzeptiert, aber Schmerzen sind meine häufigen Begleiter. Na, komm, muntere ich mich auf. Heute Morgen geht’s schon wieder etwas besser. Ich nehme einen Schluck Wasser, stecke die Füße bis über die Sprunggelenke in diese Pantoffel-Konstruktionen, deren Gummisohlen mir Gernot aufgeraut hat, damit ich auf den glatten Holzstufen der Treppe auch wirklich Halt fände, und schließe die Klettverschlüsse über den unteren Schienbeinen. Im Bad schaltet der Bewegungsmelder das Licht an. Rasieren?! Werde ja nicht nachlässig, Methusalem! Beim Blick in den Spiegel fallen mir wieder ein paar neue Falten auf – oder trage ich die schon länger? Zum Glück habe ich über die Jahre kein Doppelkinn bekommen. Nach allen üblichen Prozeduren und dem darauf folgenden Ankleiden gehe ich hinüber in die Wohnküche, von wo aus die Fenster an der Stirnseite des Häuschens in den Vorgarten an der Straße und das kleinere Fenster in der Dachgaube zum Nachbargrundstück blicken lassen. Ich drücke den einzigen Knopf an der Kaffeemaschine, schneide zwei Stück vom leckeren, nigerianischen Bananenkokoskuchen ab und positioniere sie gegenläufig auf einem Teller. Als ich mich mit Tasse, Teller und einer kleinen Gabel bewaffnet am Tisch in der Mitte des Raumes hinsetze und das erste der beiden Kuchenstücke zu zerteilen beginne, fällt mir auf, wie althergebracht alles geblieben ist. Ich schaue mich in meiner Wohnung um. Gemütlich, ja. Aber die Ausstattung, von der ich annehme, dass sie bei anderen Leuten zumindest hier in unserem Ortsteil nicht luxuriöser ausfallen dürfte, ist doch geblieben, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Die Stromversorgung, die Haushaltsgeräte, die Einrichtungsgegenstände, die Kommunikationsmittel sind doch jetzt am Ende des 21. Jahrhunderts im Wesentlichen die gleichen, die meine Eltern und Großeltern auch schon hatten – oder zumindest kannten. Der Kühlschrank arbeitet immer noch mit einer Wärmepumpe und die Waschmaschine immer noch mit einer rotierenden Trommel. Nur was früher als Fernseher bezeichnet wurde, ist heute der 3D-Viewer, der beliebig vielen Personen davor je zwei Bilder in die Pupillen projiziert und damit personalisierte räumliche Eindrücke vermitteln kann. Aber Türen und Fenster haben immer noch ganz normale Drehgriffe und Heizungsthermostate funktionieren immer noch mit Bimetall-Streifen. An diesem ganzen Alltagskrempel hat sich fast nichts verändert. Dabei habe ich mich schon mit knapp dreißig mit ‚Human Interfaces‘, den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine beschäftigt. Mein gesamtes Forschungsteam war damals euphorisiert und von dem Drang beseelt, die Zukunft zu erfinden. Gedanken, nervliche Impulse sollten genügen, unsere Umwelt bedienen und beeinflussen zu können, den Menschen die Handhabung ihrer Umgebung noch leichter zu ermöglichen. Künstliche Intelligenz! Wie viele Fiktionen von vernetztem Leben, von computergesteuerten Städten oder völlig automatisierter Produktion begeisterten uns damals?!

      Ich nehme mir genüsslich das zweite Kuchenstück vor.

      Fast nichts von diesen Fiktionen ist in den letzten sechzig Jahren im Alltag angekommen. Freilich hielt technischer Fortschritt Einzug und natürlich – obwohl, so natürlich ist das gar nicht – begeisterte man sich über Erfindungen und Entdeckungen und Entwicklungen in verschiedenen Bereichen der Grundlagenforschung. Doch vieles davon ist in den Schubladen der Militärs verschwunden und war von Anbeginn nicht für den kleinen Mann gedacht – jedenfalls nicht, solange moralischer Verschleiß noch keine Rolle spielte. Wie mein Großvater mir in jungen Jahren mal erzählte, muss es damals in vielen, auch alltagsrelevanten Bereichen immense wissenschaftliche Neuerungen gegeben haben, die die Menschen dazu verführten, an eine gloriose Zukunft zu glauben. Tatsächlich aber wurden bereits im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts ganz allmählich die Bedingungen geschaffen, unter denen der Dämon begann, aufzuwachen.

      Ich hole mir noch eine Tasse Kaffee, der Kuchen war wieder lecker. Das muss ich Lisha unbedingt heute noch mal sagen. So, und nun wird mir langsam klar, welche Mühe auf mich zukommt. Derart ungeordnet, wie mir die Gedanken durch den Kopf schwirren, kann ich sie nie und nimmer aufschreiben. Ich muss das alles besser systematisieren. Woran liegt das eigentlich, dass der erste Gesamteindruck, der im Kopf entsteht, sobald ich mich auf die Vergangenheit konzentriere, meist mit einem Gefühl der Verbitterung einhergeht?

      „Vater?“, höre ich meinen Sohn unten rufen.

      Ich stehe auf und gehe langsam zur Treppe. „Was ist, Gernot?“

      „Ich fahre jetzt in die Stadt. Lisha ist mit Federico draußen!“

      „O.k., und sieh mal zu, dass du ein paar Schreibblöcke mitbringen kannst!“

      „Wird gemacht!“ Die Haustür fällt ins Schloss und ich wende mich mit dem Gehstock von der Treppe hin zur Seitentür, die in mein Arbeitszimmer führt. Ein massiver Schreibtisch aus hellem Holz und eine übergroße Regalwand dominieren den Raum. Allerdings ist in etlichen Fächern, die keine Bücher beheimaten, mehr oder weniger wichtiger Kleinkram einsortiert, teilweise nur beiläufig abgelegt. Auf dem Schreibtisch häufen sich verstreut liegende Zettel, ein Stapel mit unerledigter Post und das halbherzig angefangene Tagebuch mit seinen ersten Einträgen. Die Lesebrille liegt oben darauf. Ich lasse mich in meinen etwas seitwärts des Schreibtisches stehenden alten Ohrensessel fallen und versuche, eine Strukturierung zu entwerfen. Trotz der hochwichtigen Obliegenheiten im Vorgarten, die ohne größere floristische Verluste auf den halben zeitlichen Aufwand würde reduziert werden können, nehme ich mir vor, täglich mehrere Stunden für mein Projekt zu verwenden. Vormittags Erinnerungen, Notizen, Systematisierungen und Recherchen. Und nachmittags werde ich „den Griffel spitzen“. Ab und zu können die Kinder ja mal Korrektur lesen. Mir hilft das im Sprachgebrauch und sie nutzen die Gelegenheit, ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit einzubringen. Außerdem benötige ich Plätze für Papier, Entwürfe und Korrekturen – ich schaue mich im Zimmer um und dann bleibt mein Blick an dem kleinen Bild im silbernen Rahmen neben der Schale mit Stiften und Büroklammern hängen. Yvonne! Na, meine Liebste? Wo treibt sich deine Seele gerade herum? ‚In den Köpfen einiger Menschen‘, würdest du jetzt sagen. Ich weiß. Deswegen hat dein Bild keinen schwarzen Flor an einer der unteren Bildecken. In mir und


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