Geschichten sind überall zu Hause. Ulrich BorchersЧитать онлайн книгу.
auf dem Sofa rumlümmeln, um sich dann in den gleichen Klamotten zur Ü-50 auf zu machen. Mal sehen, was da so rumläuft. Schick machen müssen sie sich nicht, sie haben ja herausragende innere Werte. So wie dieser Hackfleisch-Harry, Schlachter seines Zeichens.
Den Spitznamen hat ihm Petra gegeben. Der betont immer, dass er Humor hätte und wie viel Spaß man mit ihm haben könnte. Letztes Mal kam er in einem total zerknautschten T-Shirt auf dem stand: „Lieber eine unbekannte Erregte, als einen unbekannten Erreger.“ Nein, Hackfleisch-Harry ist nicht ihr Favorit. Aber es gibt Schlimmere.
Gott, ist das Licht im Bad grell und unerbittlich. Das Schminken wird immer aufwendiger. Dieses Problem mit den Augenfältchen hatte sie nicht, als sie noch zur Ü-40-Zielgruppe gehörte. Auf einmal könnte sie weinen. Wie lang macht sie das jetzt schon mit? Seit acht Jahren ist sie jetzt geschieden. Irgendwie typisch gelaufen damals, Kinder groß, der Mann an ihr uninteressiert, aber nicht an anderen und völlig unterschiedliche Interessen. Gelebte Langeweile. Aber ist es jetzt besser? Es laufen so viele Spinner da draußen herum. Nicht eine vernünftige Beziehung in der ganzen Zeit. Sie atmet tief durch. Doch, es ist zwar nicht gut, aber besser als damals. Wann wird es endlich wieder richtig gut? So wie am Anfang ihrer Ehe. Mal sehen, vielleicht hat sie heute Abend Glück.
Zweimal hupt es unten auf der Straße. Petra ist da. Sie holt schon mal den Piccolo aus dem Kühlschrank. Sie trinken sich immer ein wenig in Stimmung bevor es losgeht, die Getränke sind dort unverschämt teuer. Mehr als zwei, drei am Abend sind nicht drin. Es ist schwer genug, finanziell klar zu kommen. Das ist etwas, was früher definitiv besser war. Zurück müssen sie immer mit dem Taxi. Marianne holt dann am nächsten Tag den Wagen und bringt ihn zu Petra. Dort tauschen sie sich dann immer über den gestrigen Abend aus. Viel zu selten gibt es mal etwas Spannendes zu erzählen, etwas Schönes fast nie.
„Hallo Hübsche, Dich haben die Männer gar nicht verdient“, wird sie von Petra begrüßt.
„Ich weiß“, sagt Marianne. „Aber müssen sich denn alle daran halten?“ Sie lachen. Diese Momente bevor sie losgehen sind manchmal die besten.
„Akim hat mich die Woche besucht.“ Petra sagt das ganz beiläufig, aber Marianne bemerkt ihre Unsicherheit.
„Was willst Du hören, Petra? Mich hat er auch schon mal besucht und fast jede, die regelmäßig im Nexus zur Ü-50 ist. Wenn es Dir gut getan hat, okay. Es ist schön, sich wenigstens ab und zu als Frau begehrt zu fühlen. Und das hat Akim drauf.“
Beide schweigen.
„Mehr aber auch nicht, lass uns los.“ Petra drückt die Zigarette aus.
Susanne hat ihren Stammplatz am Tresen frei gehalten. Dafür ertragen sie, dass Susanne den ganzen Abend über die Musik schimpfen wird. Der DJ, der berufsmäßig Richy zu heißen hat und dies auch erfüllt, wird wieder von ihren voluminösen Airbags unbeeindruckt sein. Die legt sie ihm immer fast auf die Musikanlage, wenn sie ihre schon beeindruckende Oberweite noch weiter nach oben quetscht. Keine Chance, Richy steht weder auf diese Aussicht noch auf Olivia Newton John und die Flippers. Gott sei Dank.
Willi hat die Drei entdeckt. Der war mal bei Bauer sucht Frau, leider erfolglos. Jetzt betanzt er dafür hier die Frauen. Er gehört zwar zu den wenigen Männern, die tanzen können, aber er hat so fürchterlich feuchte Hände. Und dann will er immer drehen. Einmal hatte er Marianne so rumgeschleudert, dass sie aus der schwitzigen Hand rutschte, dann über die ganze Tanzfläche kugelte und auf dem Bauch liegen blieb. Es gibt davon einige Handyfotos, die ihr liebenswerterweise zugemailt wurden. Seitdem verschont er sie und heute ist Susanne dran. Die freut sich. „Ist zwar blöde Musik, aber gerne.“
Es ist anstrengend den gesamten Abend so zu wirken, dass sich die Spinner nicht animiert fühlen, aber die interessanten Typen nicht abgeschreckt werden. Einer ist aufgetaucht, den sie toll findet. Der ist das erste Mal da. Kein Ring, aber das hat nichts zu sagen. Sie beobachtet, dass er keine auffordert. Um nicht arrogant zu wirken, nimmt Marianne jede Tanzaufforderung an. Einer hat die Hand schon auf dem Weg zur Tanzfläche auf ihrem Hintern und ein Psycho spricht nur von seiner Scheidung und wie schrecklich es sei, wieder auf die Pirsch gehen zu müssen. Er drückt sich tatsächlich so aus. Dann noch ein Sturzbetrunkener und zwei, drei absolute Langweiler. Endlich fordert sie dieser tolle Mann auf. Er kann tanzen, ist witzig, unterhaltsam und erstaunlicherweise normal. Unglaublich, dass es so etwas gibt. Es stört sie auch nicht, dass er ihr beim ersten Kuss die Zunge in den Mund schiebt. Lieber forsch, als zu schüchtern. Dann beugt er sich vor und sagt: „Können wir zu Dir? Meine Frau ist zwar zur Kur, aber die Nachbarn.“ Sie fühlt sich wie vorhin im Bad, hört das denn nie auf? „Ne, lass man“, antwortet sie nur und dreht sich ab.
Heute ist ihr alles egal und sie bestellt noch weitere Getränke. Aufforderungen nimmt sie nicht mehr an. Ist denn hier gar kein kleines Glück versteckt? Wo denn dann? Gegen drei Uhr ist sie ziemlich angetrunken und zum Glück will Petra los.
Marianne lässt frustriert die Schlüssel auf den Küchentisch fallen. Wieder einmal allein nach einer Ü50-Party in der eigenen Wohnung. „Ich fühle mich wie ein Stück Obst bei Lidl. Jeder will mich drücken, aber keiner nimmt mich mit nach Hause!“ Entnervt zieht sie an der Zigarette und fürchtet sich insgeheim vor dem Aussortiert werden. Scheiß Discountermentalität.
Alte Liebe rostet nicht
Manchmal denke ich an meine Kindheit. Da war noch alles gut. Tochter aus gutem Haus, „gutgewachsen“, wie meine Mutter sagte, und klug, sogar gescheit, nicht schön, aber hübsch. Vielleicht ein wenig zu ernsthaft doch mit keiner dieser negativen Eigenschaften versehen, die jungen Mädchen allzu gern unterstellt werden. Ich war weder zickig noch albern. Eine gewisse Selbstverliebtheit will ich mir nicht absprechen, aber ist es zu verurteilen, wenn man sich seiner guten Eigenschaften bewusst ist? Ich sehe mich noch vor dem großen Spiegel in unserer Diele um die eigene Achse drehen. Beim Anblick meines Bildes dachte ich: „Der wird einmal Glück haben, der dich abkriegt!“ Während mein Vater seine kleine Prinzessin in ihrem Glauben bestärkte, sah mich meine Mutter zunehmend kritisch an.
„Vergiss bei der Suche nach dem Richtigen nicht, ausreichend Spaß mit den Falschen zu haben“, riet sie mir eines Tages.
Das fand ich unmöglich. Nein, ich wollte nicht den Ersten, ich wollte den Besten. Nicht, dass es keine Interessenten gab. An meiner Schule gab es genug pubertierende Jünglinge, die in ihrem testosterongeschwängerten Übermut all ihre Schüchternheit über den Haufen warfen und mich todesmutig ansprachen. Freundlich aber bestimmt machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie zwar ganz nett wären, meiner Idealvorstellung eines Freundes aber leider so überhaupt nicht entsprächen. Unfreundlich und sehr bestimmt setzten sie daraufhin andere darüber in Kenntnis, dass ich eine eingebildete Kuh wäre. Ab dann wurde alles schlecht.
Ich hatte ein- oder zweimal zu oft junge Himmelsstürmer abblitzen lassen. Die vergnügten sich mit ihren albernen, zickigen Freundinnen und amüsierten sich gemeinsam über die Jungfer Frauke. Viele junge Männer halten sich für Prinzen, verhalten sich aber nicht so. Wer begibt sich schon in Gefahr und tötet den Drachen, um sich dann von dem Burgfräulein anhören zu müssen: „An sich hatte ich jemanden anderen erwartet!“ Das Brandmal war gesetzt, der Makel haftete mir an. Wie Pech klebte er an mir, sodass jeder Mann die Finger von mir ließ, um sie sich nicht zu verbrennen. Ende zwanzig hatte ich weder mit dem Richtigen noch mit den Falschen auch nur irgendeine Art von Spaß. Ich war nicht verklemmt und hatte mich auf dem Gebiete der Theorie zu einer wahren Fachfrau entwickelt. Doch sexuelle Erfahrungen hatte ich nur durch mich selbst, was mich noch mehr beschämte, als das es mich traurig machte.
Ich beschloss umzuziehen. Weg aus der anonymen Großstadt Hamburg in das verträumte, kleinstädtische Flensburg. Hier wollte ich mich ändern, das Brandmal herausschneiden, den Spaß suchen, egal mit wem und auf welche Art und Weise.
Vor sich selbst kann man nicht fliehen.
Fünf Jahre später sah es bei mir immer noch nicht anders aus. Zwar wurde ich angesprochen, es gab ernsthafte Anwärter, aber ich konnte den Mantel der Keuschheit nicht ablegen. Sie waren allesamt Frösche für mich. Bei keinem von ihnen versprach ich mir die erhoffte Verwandlung. Ach, wenn es doch nur so gewesen wäre, stundenlang hätte