Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta DethlefsenЧитать онлайн книгу.
Mutter, aus wohlhabendem Bürgertum, hatte eine völlig andere Erziehung erhalten, als unser Vater. Sie war politisch und auch gesellschaftlich nicht gerade die erwünschte Partie für die kommunistischen Schwiegereltern.
Vater und Mutter kannten sich erst kurze Zeit, als Mutter von ihm schwanger wurde. Anstand, Verantwortungsgefühl, vielleicht auch Sensibilität und Schwäche unseres Vaters führten zur Eheschließung, zu einer Ferntrauung. Zum Wachsen einer Liebe und eines Zusammengehörigkeitsgefühls blieb keine Zeit. Zusammengerechnet hatten sie bis zu Vaters Tod knapp 5 Monate ihres Lebens gemeinsam verbracht.
Vater musste ein besonders schöngeistig veranlagter Mensch gewesen sein, dabei schwermütig und introvertiert. Er hatte nach der Schulzeit ein Ballett- und Schauspielstudium aufgenommen. Der Krieg hatte ihn rasch zerbrochen.
Fast jeder Fronturlaub bedeutete für unsere Mutter eine erneute Schwangerschaft.
Mutter hatte eine verwöhnte, wohlbehütete Kindheit verbracht. Sie blieb klein und zierlich, wurde aber zäh und lebenstüchtig, lieb und tolerant. Sie entwickelte Kräfte und Fähigkeiten, die unser Überleben sicherten. Sie arbeitete in der Landwirtschaft, stand in der Fabrik am Fließband, erledigte die Buchführung einer Holzhandlung, und abends erteilte sie Klavierunterricht.
Der Schuhkarton vom Dachboden enthielt auch Briefe einer unbekannten Frau aus Berlin. Einer davon war besonders aufwühlend.
1945, in den letzten Kriegstagen, erfuhr ein Vorgesetzter durch einen Denunzianten von Vaters politischer Einstellung. Aus Angst vor seiner Hinrichtung floh unser Vater daraufhin von der Truppe. Er wurde gefasst und mit einem Gewehrkolben zusammengeprügelt. Seine Kameraden ließen ihn liegen. Die Briefschreiberin aus Berlin hatte das beobachtet, ihn ins Haus geschleppt, versteckt, gepflegt und sich in ihn verliebt. Dann wurde sie schwanger. Das hatte unser Vater nie erfahren.
Nachdem er sich ein wenig besser fühlte, wollte er nach seiner Familie suchen. Die Berlinerin musste ihn gehen lassen, wollte in einem späteren Brief nur wissen, wie es ihm ginge. Denn gesund war er nicht, als er sie verließ. Er hatte doch immer so entsetzliche Kopfschmerzen gehabt! Unsere Mutter möge verzeihen, dass es unter den vorausgegangenen Umständen zu dieser Nähe gekommen war. Sie habe ein Kind von ihm und liebe unseren Vater, wäre gerne seine Frau geworden. Er hätte sich ja aber anders entschieden.
Vater und diese Fremde hatten uns mithilfe des Roten Kreuzes gefunden.
Aus anderen Briefen und Tagebucheintragungen unserer Mutter erfuhren wir: Der Krieg war vorbei und Vater hatte uns krank, dringend ärztliche Hilfe benötigend, erreicht. Im Schoß unserer Mutter suchte er Vergessen. Und sie wurde wieder schwanger. Ein paar Monate vergingen.
Ahnte er, dass er sterben musste? Einunddreißig Jahre jung! Er wollte seine Eltern noch einmal sehen, hoffte, sie könnten etwas für die Kinder beschaffen: Lebensmittel, Kleidung. Er fuhr zu ihnen nach Dortmund.
Kaum angekommen musste er ins Krankenhaus. Die Schmerzen waren unerträglich geworden. An der rechten Schläfe, wo ihn der Gewehrkolben besonders stark verletzte, hatte sich ein Tumor gebildet, damals inoperabel.
Ein entsprechendes Telegramm aus Dortmund veranlasste unsere Mutter, trotz der Schwangerschaft, sofort hinzufahren. Ein Güterzug nahm sie und meine damals siebenjährige Schwester mit. Die Fahrt war beschwerlich. Es gab keine geschlossenen Abteile, nicht einmal Sitzplätze, aber viele Unterbrechungen. Auf einem Bahnhof mussten sie Stunden auf die Weiterfahrt warten. Meine Schwester vertrieb sich die Zeit mit Hüpfespielen über in Laken verschnürte Pakete. Es waren Soldaten. Heimkehrer, die in die blutbesudelte deutsche Erde gelegt werden sollten, als Dank für ihre Tapferkeit, für ihr vergeudetes Leben.
Vater lag allein in einem Krankenzimmer.
Mutter hielt ihm eines der mitgebrachten Lebkuchen an die aufgesprungenen Lippen. Er aß sie so gerne, konnte aber nicht mehr schlucken. Keksbrei und Speichel rannen ihm über das Kinn. Das ehemals schöne Gesicht mit den nun fiebrig glänzenden Augen war um Jahre gealtert, war nicht wiederzuerkennen. Unaufhörlich liefen ihm Tränen über die Wangen und verloren sich in den Kissen.
Wohl gab er noch zu verstehen, Frau und Tochter zu erkennen, äußern konnte er sich nicht mehr.
Um unserem Vater im Sterben beizustehen eilte unsere Mutter am nächsten Morgen noch einmal ins Krankenhaus. Meine Schwester ließ sie bei den Schwiegereltern.
Vater war tot. Nachts, als niemand bei ihm war, ist er den letzten Weg gegangen.
Sie überbrachte seinen Eltern die Nachricht vom Tod des Sohnes. Die wollten meine Schwester behalten und behaupteten, unser Vater hätte das zu Lebzeiten so verfügt. Zudem behielte Mutter ja zwei Kinder und eines käme noch hinzu.
Sie versteckten meine Schwester. Aber Mutter fand sie bei einer unverheirateten Cousine im Ort.
In der Nacht hatte Mutter ihr eigenes Kind entführt. Es schneite heftig. Meine Schwester war nur mit einem Nachthemd unter dem Mäntelchen bekleidet, die nackten Füße steckten in verschlissenen Stiefeln. Andere Bekleidung fanden sie in der Eile nicht. In einem Güterzug hatten sie Platz bekommen, bevor das Verschwinden entdeckt wurde.
Ich weiß, dass unsere Mutter, als sie mit mir schwanger ging, erfolglos einen Arzt für einen Abbruch aufsuchte. Und ich weiß, wie oft sie Gott, und in ihrem Herzen auch mich dafür um Verzeihung bat. Sie hat sich immer besonders um mich gesorgt, mich behütet und als ihren größten Schatz angesehen. Gott hat ihr bestimmt vergeben und ich habe ihr nichts vorzuwerfen.
Die ihr zustehende Kriegerwitwenrente hat sie nicht erhalten. »Einen Tumor kann jeder bekommen«, lautete die Begründung.
Mutter ist heute, im Jahre 2002, 88 Jahre. Sie ist noch immer eine bewundernswerte Frau, ist geistig rege geblieben, liest, malt, spielt Klavier, und nimmt Anteil am Zeitgeschehen.
Sie lebt zufrieden in einer Senioreneinrichtung. Zwei ihrer Enkeltöchter arbeiten dort als Pflegepersonal, so hat sie täglich vertraute Gesichter um sich.
Stets äußert sie, wie reich beschenkt sie sich durch ihre Kinder fühlt. Wir lieben und achten sie aufrichtig und das weiß sie. Gefordert hat sie nie etwas.
Von unserer Entdeckung weiß sie nichts. Sie wird ihr vermeintliches Geheimnis mitnehmen in eine andere Welt.
Denn die Briefe und das Tagebuch, damals von uns zurück auf den Dachboden gebracht, waren ein paar Jahre später verschwunden.
Vor Jahren sah ich unsere Halbschwester im Fernsehen. Sie war Moderatorin geworden und trug noch immer den Namen ihrer Mutter. Und wieder hatte ich dieses merkwürdige Gefühl, genau wie mit Vaters Fotografie vor dem Spiegel, als ich noch ein kleines Mädchen war.
Ich denke, ich werde sie aufsuchen, – irgendwann – wenn Mutter nicht mehr bei uns ist.
Ach nein, ich werde das Kapitel in Mutters Sinn abschließen.
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