Zeckenalarm im Karpfenland. Werner RosenzweigЧитать онлайн книгу.
über einer rot geäderten Hakennase tief in den Augenhöhlen lag. Sein Mund war breit, von zwei wulstigen Lippen dominiert. Alles in allem hinterließ er nicht gerade einen vertrauenserweckenden Eindruck. So manches Kind, welches von seiner Mama an der Hand geführt wurde, drehte sich zu ihm um, deutete mit dem Finger auf ihn und klärte seine Mutter auf: „Schau Mama, böser Onkel!“ „Psst! So was sagt man nicht“, oder „Komm jetzt, man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute!“, waren häufig die peinlich berührten Antworten.
Er verstand die Kinder. Er brauchte sich nur selbst zu betrachten. Alleine seine Kleidung hinterließ einen schäbigen Eindruck. Sein jägergrünes Jackett – sein einziges –, welches er winters wie sommers trug, war abgetragen und mit dunklen Rotweinflecken besprenkelt. Die Ärmel waren an den Ellenbogen abgewetzt, und die drei Knopflöcher waren ausgerissen. Egal, Knöpfe waren sowieso längst nicht mehr dran. Das gelbe Baumwollhemd, welches er trug, war seit Monaten nicht mehr gewaschen worden und stank nach seinen Körperausdünstungen. An den Knien seiner schwarzen Jeans klafften taubeneigroße Löcher, und die Zähne des einzigen Reißverschlusses waren zur Hälfte nicht mehr existent. Die Sohlen seiner Sportschuhe mit den drei Riemen schließlich, welche er aus einem Mülleimer gezogen hatte, waren durchgelaufen, und wann immer es regnete, bekam er nasse Füße.
Nachdem er seinen Apfel ratzebutz aufgegessen hatte, stierte er vor sich hin und dachte – wie so oft in letzter Zeit – über sein bisheriges Leben nach. Alles war so schnell gegangen. Der Absturz kam wie aus heiterem Himmel. Er hatte eine glückliche Jugend verbracht. Seine Eltern, Georg und Doris Seitz, kümmerten sich rührend um ihn. Sie lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, halfen ihm während der Schulzeit beim Lernen und hatten großes Verständnis, wenn er mal eine Dummheit begangen hatte. Kurzum, sie waren immer für ihn da. Kaum hatte er am Albert-Schweitzer-Gymnasium ein gutes Abitur abgelegt und gerade mit seinem Jura-Studium begonnen, erlitt er den ersten schweren Schicksalsschlag. Im Jahr 1994 kamen seine Eltern nicht mehr von einem Urlaub in Tirol zurück. Ein Lkw war bei heftigem Regen in der Nähe der österreichischen Ortschaft Schwaz auf dieGegenfahrbahn geraten. Seine Eltern hatten nicht die geringste Chance. Ungebremst rasten sie mit ihrem Mini-Van in den schweren Lastzug. Vater und Mutter waren sofort tot. In ihrem Testament hinterließen sie ihm nicht nur das kleine Einfamilienhaus in der Schallershofer Straße, ganz in der Nähe des Freibads West, sondern auch eine höchst merkwürdige Überraschung. In einem handgeschriebenen, herzzerreißenden Brief klärten sie ihn darüber auf, dass er gar nicht ihr leiblicher Sohn sei, sondern dass sie ihn im Alter von sechs Monaten adoptiert hätten, da sie selbst keine Kinder bekommen konnten. Noch im Tod warben sie um sein Verständnis, dass sie ihm niemals darüber berichtet hatten, und baten ihn, auch jetzt, nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, keine Nachforschungen nach seinen wirklichen Eltern anzustellen. Seine leibliche Mutter war gerade mal siebzehn Jahre alt, als sie ihn geboren hatte, schrieben sie und versuchten in weiteren detaillierten Erläuterungen, deren damalige Lebenssituation und ihre Gründe für die Weggabe des Kindes nachträglich zu entschuldigen. Einen Hinweis auf seine leibliche Mutter gaben sie ihm nicht. Selbst seine Abstammungsurkunde fehlte in dem Familienbuch, welches sie ihm. So lieb sie sich auch immer um ihn gekümmert hatten, so ärgerte er sich doch im Nachhinein über ihre Heimlichtuerei und ihr Fehlverhalten ihm gegenüber.
Kaum dass er seine Adoptiveltern unter die Erde gebracht hatte, brach er sein Jura-Studium ab. Er musste Geld verdienen. Es war absehbar, wann das bescheidene Barvermögen, welches sie ihm vererbten, aufgebraucht sein würde. Doch er war ehrgeizig. Er würde es schaffen. Noch im gleichen Jahr, er war gerade zwanzig, begann er bei Siemens eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Seine interne Firmenabschlussprüfung schaffte er mit einer glatten Eins und wurde sofort in den Kreis der förderungswürdigen Jungkaufleute aufgenommen. Während seiner Ausbildungszeit lernte er Lisa Probst kennen, ebenfalls eine Auszubildende, ein Ausbildungsjahr nach ihm. Die beiden jungen Leute verliebten sich ineinander, schworen sich ewige Treue und Liebe und traten 1997 vor den Traualtar. Die ersten drei Ehejahre waren ein einziger Traum, bis Jens geboren wurde. Zwei Jahre später, im Jahr 2002, kam Töchterchen Tina zur Welt. Während ihr Ehemann im Laufe der Jahre eine steile Firmenkarriere hinlegte, kümmerte sich Lisa Seitz um den Haushalt und die Erziehung der gemeinsamen Kinder. Kuno kam immer später nach Hause, und immer öfter und immer länger war er auf Dienstreisen. Bald fiel Lisa die Decke auf den Kopf. Sie fühlte sich ungerecht behandelt. Es war niemals ihr Lebensziel gewesen, die Rolle einer Putzfrau einzunehmen, drei Mal am Tag Kinderwindeln zu wechseln, zu waschen, zu bügeln und stets ein warmes Essen auf dem Herd zu haben, wenn der Herr des Hauses sich gnädigerweise bequemte, spät am Abend zu Hause zu erscheinen, und nach dem gemeinsamen, wortkargen Abendessen zu gähnen begann. Langsam erlosch die große, gegenseitige Liebe. Immer öfter und in immer kürzeren Abständen zankten sich die Eheleute. Als im Jahr 2007 gegen den Arbeitgeber von Kuno Seitz schwere Vorwürfe wegen gezielter, weltweiter Korruption erhoben und entsprechende Ermittlungen eingeleitet wurden, geriet auch er in die Mühlräder der Justiz. Die von der neuen Firmenleitung beauftragten, investigierenden amerikanischen Anwälte wiesen ihm anhand eines Berges von seiner Festplatte kopierter Dokumente gezielte Bestechung südamerikanischer Politiker nach. Die Sachlage war eindeutig. Kuno Seitz, der glaubte, sich stets zu mehr als einhundert Prozent für die Interessen seines Arbeitgebers eingesetzt zu haben, gab alle Verfehlungen zu. Siemens kündigte ihm. Die Justiz leitete ein Strafverfahren gegen ihn ein. Mit drei Jahren Haft auf Bewährung kam er noch glimpflich davon. Am schwersten wog für ihn jedoch, dass seine Frau die Scheidung einreichte. Es folgte ein kurzer, aber erbarmungslos geführter Rosenkrieg. Im Jahr 2010 stand er mittellos auf der Straße, ohne Aussicht darauf, jemals wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Die Geldstrafe, welche ihm das Gericht auferlegt hatte, und die Konsequenzen der Scheidung fraßen alle seine Vermögenswerte auf. Wie oft dachte er seitdem daran, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch je länger und intensiver er darüber nachdachte, desto schneller verließ ihn der Mut, diesen Schritt auch tatsächlich zu vollziehen. Er führte nunmehr ein Leben, welches nur noch im Suff zu ertragen war. In seiner trostlosen und ausweglosen Situation dachte er häufiger darüber nach, wer wohl seine leibliche Mutter sein könnte. Lebte sie noch? Wo lebte sie? Wie ging es ihr heute? Dachte sie noch manchmal an ihren Sohn, den sie im Säuglingsalter in fremde Hände gab? Wenn sie damals siebzehn war, musste sie heute fünfundfünfzig sein. Kein Alter! Vielleicht suchte sie nach ihm und hatte ihren Schritt von damals längst bereut? Sollte er sich vielleicht doch auf die Suche nach ihr begeben? Doch wo sollte er beginnen? Was, wenn er sie finden würde? Er, ein Obdachloser! Er verwarf den Gedanken immer wieder.
„Ist hier noch ein Platz frei?“ Ein adrett gekleideter Mann, deutlich jünger als er, blickte durch seine modische schwarze Hornbrille freundlich auf ihn herab. „Wenn Sie meine Erscheinung nicht stört. Bitte schön!“ „Ein komisches Wetter heute“, kommentierte der Ankömmling, ohne auf die indirekte Frage einzugehen. Stattdessen bot er Kuno eine Marlboro an. Mit seinen schmutzigen Fingernägeln fingerte der Obdachlose in der Zigarettenschachtel herum. „Danke, sehr freundlich.“ Dann rauchten die beiden schweigsam ihre Glimmstängel. Nach einer halben Stunde und einer zweiten Zigarette begann Kuno Seitz, dem Fremden die Geschichte seines Lebens zu erzählen.
Röttenbach, Kirchgasse, Donnerstag, 28. Juni 2012
Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer, die beiden fränkelnden Röttenbacher Urgesteine und langjährigen Busenfreundinnen saßen in Kunnis Küche und beratschlagten, wie sie ihre bevorstehenden achtzigsten Geburtstage ordentlich feiern sollten. „Do lass mer scho an grachn“, meinte die Retta im Brustton der Überzeugung, „su ald wird ka Sau.“ Dritte im Bunde war Theresa Fuchs, die rüstige Nachbarin aus der Lindenstraße, und zwei Jahre jünger als die beiden angehenden Jubilare. Genau wie Kunni und Retta war auch die Fuchsn Deres bereits langjährige Witwe. Doch im Unterschied zu den beiden Geburtstagskindern hatte sie noch direkte Familienbeziehungen ersten Grades im Dorf. Ihr Sohn Bruno und seine Frau Julia, ebenso eine gebürtige Röttenbacherin, wohnten drüben, im Neubaugebiet „Bucher Weg“. Julia war zwar schon einmal verheiratet gewesen, mit einem Amerikaner, und hatte in der Nähe von Dallas gelebt, doch drei Jahre nach ihrer Eheschließung und nur ein Jahr nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Michael schlug das Schicksal unbarmherzig zu: John Hausman, ihr erster Mann, verstarb überraschend an Krebs. Glücklicherweise war John Hausman kein armer Mann, sondern ein sehr erfolgreicher Immobilienmakler.