Schirach. Oliver RathkolbЧитать онлайн книгу.
Goethes und Schillers ein guter Boden für die auf Wählersuche befindliche NSDAP war. Diesmal kam er von Nürnberg mit dem Auto. Wieder redete er im Vereinslokal »Erholung«, diesmal vor 800 Teilnehmern, und besuchte dann die Lortzing-Oper Der Wildschütz im Nationaltheater – und nicht, wie sich Baldur von Schirach zu erinnern glaubte, die »Walküre« aus dem »Ring des Nibelungen«.70 Diesmal übernachtete Hitler schon in einem besseren Hotel, dem »Hohenzollern« am Weimarer Bahnhof, und besuchte nach einem von Ziegler arrangierten kurzen Treffen mit Carl von Schirach und seinem Sohn Baldur im Nationaltheater den ehemaligen Generalintendanten zu Hause in der gemieteten Villa in der damaligen Gartenstraße 37. Man trank Tee und sprach über Theater und Musik. Hitler, der in Begleitung von Rudolf Heß gekommen war, wusste, typisch für einen musikinteressierten Laien, mit Aufführungslisten aus Wien zu glänzen und beeindruckte damit den Theaterchef a. D., der auch Opernregie geführt hatte. Der »Führer«, der seinen blauen »Standardanzug« mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte trug, hatte inzwischen gelernt, sich in »besseren Kreisen« formvollendet zu bewegen: Er überreichte Frau Schirach Blumen und küsste ihr die Hand, er »hörte aufmerksam zu, fiel niemandem ins Wort. Es war eine völlig ungezwungene Teestunde.«71 Der »exklusive Patrizier« und der dem Schützengraben des Weltkriegs entstiegene »Agitator der Münchener Biersäle«72 fanden zusammen.
Auch für den Sohn des Hauses hatte der durchaus sympathische Gast einige Worte parat: »Er fragte mich, was ich werden wolle. Ich hatte damals noch anderthalb Jahre bis zum Abitur und wollte dann studieren. Hitler sagte: ›Wenn Sie studieren, dann kommen Sie doch zu mir nach München‹« – der Satz, der das Leben Schirachs bestimmen sollte.73
Typisch für Baldur von Schirach war, dass er trotz des positiven Eindrucks, den Hitler durch seine Opernkenntnisse bei Carl von Schirach hinterlassen hatte, vor allem auf die Einschätzung seiner Mutter hörte: »How well he behaves« und »At least a German patriot«.74 Während des Besuchs hatte Hitler überdies ihre kostbaren Empiremöbel, die aus ihrer Aussteuer stammten, bewundert.
Im konservativ-nationalen Weltbild Carl von Schirachs hatte inzwischen auch die Ideologie des Nationalsozialismus ihren Platz gefunden, und so trat der ehemalige preußische Gardeoffizier der NSDAP bei. Am 6. Dezember 1926 wurde er mit der Mitgliedsnummer 48505 aufgenommen.75 Zwölf Jahre später – inzwischen auf dem Posten des Intendanten am Deutschen Theater in Wiesbaden – wurde anlässlich seines 65. Geburtstages seitens des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda rühmend festgehalten: »Von Schirach ist als Pg. Nr. 48505 und Träger des Goldenen Ehrenzeichens der drittälteste Parteigenosse unter den deutschen Bühnenleitern (nach Staatsrat Dr. Ziegler in Weimar und Intendant Robert Rode in Trier).«76
Wann sich sein Sohn Baldur von Schirach endgültig von der Knappenschaft trennte, ist unklar, der Abschied von »meinem alten Jugendbund« erfolgte wohl vor dem Abitur, das Engagement für Hitler wurde ihm von den ehemaligen Kameraden als »Verrat an der rein völkischen Sache« ausgelegt.77 Seiner Erinnerung nach machte die Knappenschaft Saalschutzdienste für die NSDAP und andere rechte Parteien und Gruppierungen, um etwaige Übergriffe durch Kommunisten zu verhindern. Schirach berichtet in seiner Autobiografie zwar von keinen Vorfällen, zählt aber stolz seine Dienste bei rechtskonservativ-völkischen nationalistischen Rednern wie General Ludendorff, den Stahlhelmführern Franz Seldte und Theodor Duesterberg oder dem Medienmagnaten Alfred Hugenberg auf.78 Letzterer gehörte der Deutschnationalen Volkspartei an, unterstützte und kontrollierte die rechtsgerichtete Presse und kooperierte mit der NSDAP.
Mit Schirachs Beitritt zur NSDAP knapp nach seinem 18. Geburtstag am 29. August 1925 (Mitgliedsnummer 17251) wurde er, wie sein Vater Carl, der Ortsgruppe Weimar/Thüringen zugeteilt, wo er den Beitrittsantrag in der »Gaugeschäftsstelle«, einem laut Schirach »schmalbrüstigen Laden in einer der billigsten Wohngegenden«, gestellt hatte. Der monatliche Parteibeitrag betrug 80 Pfennig, am Programm stand für den neuen Parteigenossen, der »felsenfest« daran glaubte, dass Hitler die Macht in Deutschland übernehmen würde, vor allem das Verteilen von Flugblättern. Da er früher als sein Vater der NSDAP beigetreten war, erhielt er bereits am 10. März 1933 das Goldene Ehrenzeichen für verdiente alte Parteimitglieder, Carl von Schirach wurde am 2. März 1934 geehrt.
1925 wurde der Gymnasiast Schirach auch Mitglied bei der SA in Weimar, galt 1926 aber aus unbekannten Gründen als beurlaubt und schien dann 1927 in den SA-Unterlagen wieder als SA-Mann (Sturm 1) in München auf. Zu Ostern 1927 legte er sein Abitur ab, die Entscheidung über seine Zukunft war im Prinzip bereits gefallen: Er war bereit, dem »Führer« weiter zu folgen: »Fest stand nur eins: Ich wollte nach München, denn dort war Hitler.«79 Zu Ende ging es damit wohl auch mit den musikalischen Ambitionen des Abiturienten – Schirach hatte seit dem 25. September 1923 an der Staatlichen Musikschule von Weimar, heute die Hochschule für Musik Franz Liszt, als Gastschüler in der Klavierklasse von Hermann Oschmann studiert, allerdings, wie er selbst in seinen Erinnerungen einräumte, ohne allzu großen Fleiß zu zeigen. Wie aus seiner Studentenakte hervorgeht, wurde er am 31. Juli 1926 vom Unterricht abgemeldet.80 Der Pianist Bruno Hinze-Reinhold, damals Rektor der Musikschule, erwähnt in seinen Lebenserinnerungen Vater Carl von Schirach als »hochmütigen Mann«, der später das Goldene Parteiabzeichen erhalten hätte. Sein »unseliger« Sohn Baldur, der in der Nazizeit eine »so schimpfliche Rolle« spielen sollte, machte als Gastschüler einen etwas »doven« Eindruck, hätte aber schon damals »aufreizende Gedichte« geschrieben.81
Zur ersten großen Herausforderung für den jungen SA-Mann wurde im Juli 1926 der 2. Reichsparteitag der NSDAP in Weimar. Auf seinem Fahrrad »raste« Schirach zwischen Bahnhof und Stadt, zwischen Massenquartieren in Wirtshaussälen und Privatunterkünften hin und her, um den Wünschen der teilnehmenden Parteigenossen nachzukommen. Erstmals erlebte er auf der Bühne des Nationaltheaters das Ritual der »Fahnenweihe«: »Die Fahnen und Standarten neuaufgestellter SA-Einheiten weihte Hitler, indem er das neue Tuch mit der Blutfahne berührte. Für uns junge Menschen war das ein sakraler Akt. Hitler schien uns in jenen Augenblicken mehr zu sein als ein Politiker.«82 Schirach erinnerte sich auch an den Auftritt des kahlköpfigen »Judenhassers« Julius Streicher, der seine Zuhörer mit einer Flut von antisemitischen Schimpfwörtern und Drohungen überschüttete – für Schirach in der Retrospektive ein »peinlicher Zwischenfall«. Die braven Weimarer Bürger hätten darüber nur »befremdet« die Köpfe geschüttelt, den »jugendlichen Glauben« Schirachs konnte der rabiate Auftritt des Gauleiters aus Nürnberg allerdings nicht erschüttern. Er hätte das nur für »Schönheitsfehler« gehalten, denn: »Nationalsozialismus – das hieß für mich Hitler, die Kameradschaft der Gleichgesinnten, die Gemeinschaft von hoch und niedrig, arm und reich.«83
»Hitler schien uns in jenen Augenblicken mehr zu sein als ein Politiker«: der »Führer« am Reichsparteitag in Weimar 1926. Noch marschieren viele im bürgerlichen dunklen Anzug in Hitlers Reihen, bald werden nur mehr braune Uniformen zu sehen sein.
Zwei zentrale Fragen stellen sich an dieser Stelle, die auch Baldur von Schirach in seinen Erinnerungen thematisiert. Wie gelang es Adolf Hitler, ehemalige politische und kulturelle Eliten aus dem Kaiserreich, die nach wie vor einen bürgerlich-konservativen elitären Lebensstil pflegten, für die NSDAP zu gewinnen? Manche wie etwa Carl von Schirach traten der NSDAP bald bei und bürgten mit ihrem Namen für eine offen antisemitische und antimoderne völkische Kulturorganisation, den »Kampfbund für deutsche Kultur«. Damit unterstützten sie sichtbar und nachhaltig den kulturellen Deutungsmachtanspruch der NSDAP in der für die deutsche Elitengesellschaft so wichtigen nationalen Kultur.
Carl von Schirach gehörte 1929 zu den 54 Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufes für die Schaffung des »Kampfbundes für deutsche Kultur« – eine Initiative, die auf den rassistischen NS-Ideologen Alfred Rosenberg zurückging und ein wichtiges Netzwerk zur Vorbereitung der kulturellen Hegemonie der NSDAP nach 1933 werden sollte. Weitere Unterzeichner waren Adolf Bartels, das Verlegerehepaar Hugo und Elsa Bruckmann, das seinen politischen Salon in München Hitler