Karl May. Jens BöttcherЧитать онлайн книгу.
May in seinen Lebenserinnerungen als wenig förderlich für eine gesunde innere Weiterentwicklung. Er blieb ein Einzelgänger und fand wenig Gefallen daran, wie im Seminar der Lehrstoff vermittelt wurde. Die religiöse Unterweisung empfand er als besonders abschreckend. Dabei hatte ihm nicht zuletzt das gute Zeugnis des Ernstthaler Pfarrers den Weg aufs Seminar geebnet. May sieht eine Diskrepanz zwischen einem »seelenlosen« institutionalisierten Christentum und seinem persönlichen Hunger nach Liebe:
Die Überzeugung, dass es einen Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, dass ich diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, dass sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen musste. Das war ganz richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es gab bei alledem eines nicht, nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte.
Die Schule allerdings dreht den Spieß herum: Wegen eines geschwänzten Gottesdienstes vermerkt man in einer Beurteilung des Seminaristen May, er sei in religiösen Dingen »kalt und gleichgültig«.
In Mays Seminarzeit fällt seine erste große Liebe zur gleichaltrigen Anna Preßler aus seiner Heimatstadt Ernstthal. In seinen Lebenserinnerungen erwähnt Karl May, dass er in diesen Jahren Lieder und Gedichte geschrieben habe, nicht aber, für wen sie bestimmt waren. Vermutlich findet Anna deshalb keine Erwähnung, weil sie dem Seminaristen nicht treu bleibt, sondern mit 16 Jahren einen Kaufmann heiratet, von dem sie ein Kind erwartet. Zu dieser Zeit schickte May eine erste Indianergeschichte an die bekannte Familienzeitschrift »Die Gartenlaube« und erhielt nach eigenem Bekunden eine ermutigende Absage: Er möge es in einigen Jahren nochmal probieren, soll der Chefredakteur ihm geschrieben haben.
Die Seminarzeit in Waldenburg endet jäh, als Karl kurz vor Weihnachten 1859 des Kerzendiebstahls beschuldigt wird. Nach Mays Version wollte er mit einigen Talgresten seinen Lieben daheim eine kleine Weihnachtsfreude machen. Die Episode zeigt, dass Karl May auf dem Waldenburger Seminar offensichtlich ein Außenseiter und unbeliebter Schüler war, denn er wird Ende Januar 1860 aus dem Seminar geworfen. Die Katastrophe wird aber noch einmal abgewendet, denn nach einer »untertänigsten« Eingabe ans Ministerium und einem diplomatischen Begleitbrief seines Pfarrers kann er ab Juni 1860 seine Ausbildung im Lehrerseminar Plauen fortsetzen und im September des folgenden Jahres mit der Gesamtnote »gut« abschließen.
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