Der Schattendoktor. Adrian PlassЧитать онлайн книгу.
Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht, aber ich glaube, du bist ihm sogar das eine oder andere Mal begegnet. Wir schreiben uns immer noch zu Weihnachten. Er war einer von diesen großartigen Notsanitätern, wie man sie im Fernsehen sieht. Er war so nett. Wenn es mit seinen Schichten passte, kam er manchmal nach dem Tee vorbei, um mit William zu plaudern. Eines Abends erzählte er uns, ein Kassierer im Supermarkt sei an diesem Tag sehr grob zu seiner Frau gewesen.
›Ich war ziemlich sauer, aber ich wusste nicht, was ich unternehmen sollte‹, sagte er. ›Dann dachte ich: William fällt bestimmt etwas ein. Also, stell dir vor, jemand macht deiner Alice das Leben schwer. Wie würdest du damit umgehen?‹
Mein armer lieber Mann war inzwischen schon bettlägerig und konnte sich kaum noch rühren, aber – ja, was soll ich sagen? Es war wie eine kleine Auferstehung. Er packte mit beiden Händen die Seitengeländer seines Bettes. Die Haare standen in alle Richtungen wie bei einem Windrotor. ›Was ich tun würde?‹, bellte er. ›Ich würde herausfinden, wo der Kerl wohnt, und dann würde ich hingehen, ihn heraus auf die Straße rufen und ihm einen Kinnhaken verpassen!‹
Und ich schwöre dir, Jack, um ein Haar hätte er sich aus dem Bett gestemmt und genau das getan. Er war ein altmodischer Mann. Ein getreuer Ritter. William war alles für mich. Ob ich ihn noch vermisse?« Ihr Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne, während sie das Foto unter gekreuzten Armen an ihre Brust drückte. »Mir ist das Glück ausgegangen, Jack – mir ist das Glück ausgegangen.«
Die einzigen Misstöne zwischen Jack und Alice hatten sich ergeben, wenn sie auf seine Glaubensüberzeugungen zu sprechen kamen – oder nicht zu sprechen kamen, besser gesagt. Für Jack war das ein heikles und verstörendes Thema. Eigentlich hatte er nie recht gewusst, wie Oma über solche Dinge dachte, aber sie war eine tragende Wand seines Lebens. Mit ihrer Anerkennung und Ermutigung hatte sie ihm stets Kraft gegeben. Dazu kam die Furcht, ihr könnte eine Ewigkeit voller Freude entgehen, wenn sie nicht die Wahrheiten begriff, die ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren. Es war wie ein juckendes evangelistisches Ekzem, an dem er herumkratzte, bis er wund war.
Dabei erhob sie nicht einmal Einwände gegen das, was er ihr sagte. Keineswegs. Sie lachte ihn auch nicht aus wegen seiner Gedanken und seiner Begeisterung. Nein, sie reagierte gar nicht, und gerade das fand er so frustrierend und verwirrend. Sie saß einfach nur da und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Ratlose Besorgnis. Das war es, was bei diesen Gelegenheiten aus ihrer Miene sprach. Eines Tages bat er sie, ihm ehrlich zu sagen, warum sie kaum eine Regung zeigte, wenn er ihr von dem erzählte, was ihm wichtig war. Alice schüttelte nur den Kopf und blinzelte entschuldigend. Sie erinnerte Jack an Daphne aus der Quizsendung Eggheads, wenn ihr eine Antwort nicht einfällt. Eine Art Antwort gab sie ihm aber doch.
»Du musst mir verzeihen, Jack, wirklich. Es ist nur so, dass – also, wenn du über diese Dinge sprichst, dann höre ich ganz genau auf die Worte, ehrlich, aber sosehr ich mich auch bemühe, es kommt mir immer so vor, als ob ich dich gar nichts sagen hörte …«
Jack verstummte. Ihm blieb innerlich die Luft weg vor Schmerz und Verblüffung. Das war eine beängstigende Abweichung von der Norm, die zwischen Jack und Oma herrschte. Von diesem Moment an kamen alle Gespräche über das Thema zum Erliegen. Dieser einmalige Stolperstein in ihrer Beziehung hing von diesem Tag an immer in der Luft, wenn sie sich sahen, und manifestierte sich von Zeit zu Zeit in einem unbehaglichen Herumrutschen oder ausweichenden Blicken beiderseits. An ihrer gegenseitigen Zuneigung änderte er kaum etwas, aber er war unbestreitbar da. Alice und Jack verloren nie wieder ein Wort über den Glauben. Nach dem Tod seiner Großmutter war diese unerledigte Sache vom ersten Moment seiner quälenden Trauer an ein Stein im Schuh von Jacks Genesung.
Alice hinterließ ihrem einzigen Enkel eine ganze Menge Geld. Das würde hilfreich sein, vielleicht eine Art Kissen, auf dem er sein Haupt betten konnte, wenn alles andere scheiterte. Er stellte einen Scheck über eine fünfstellige Summe – ein Zehntel des Gesamtbetrages – für seine Gemeinde aus und steckte den Umschlag in den Briefkasten um die Ecke. Als er ihn mit einem flatternden Geräusch ins dunkle Innere fallen hörte, klopfte er sich die Hände ab. »Das wäre erledigt«, murmelte er, machte kehrt und stapfte davon.
Außerdem hinterließ Alice ihrem Enkel einen Brief.
Jack nahm sich eine Woche von seiner Arbeit im Gemeindezentrum in Bromley frei, um die Auflösung der Wohnung seiner Großmutter zu organisieren. Es war das zweite Mal, dass er die Erfahrung machte, die Habseligkeiten eines Menschen sortieren zu müssen, den er sehr geliebt hatte, und es war genauso qualvoll und unangenehm wie beim ersten Mal. Es kam ihm vor, als wäre jegliche Daseinsberechtigung von Omas Sachen gewichen, genau wie die Seele aus ihrem Körper entwichen war. Dekorationen, Bilder und Möbel hingen oder standen herum und sahen sinnlos und verlassen und grauenhaft ordentlich aus. Wie Bewohner einer unerreichbaren anderen Welt schauten Alice und ihr geliebter William von den Fotos auf dem Sekretär zu ihm herüber. Sie waren jetzt wieder vereint, da drüben auf der anderen Seite der Glasscheibe.
Am Ende einer düsteren und verschwitzten Woche war Jacks Arbeit nahezu getan. Emotional ausgezehrt schloss er zum letzten Mal Alices Wohnungstür ab und schleppte sich langsam durch die anbrechende Dunkelheit die Uferstraße entlang und den Hügel hinauf zu seinem Hotel. Weit unten zu seiner Linken schwappten die Meereswellen ans Ufer und zurück und wieder ans Ufer, wie sie es schon immer getan hatten. Zwei Zeilen aus einem Gedicht, das er einmal gehört hatte, kreisten in seinem Kopf herum und löschten nach einer Woche solch trübseliger Plackerei ohne Mühe jeden Anflug von geistlichem Optimismus aus.
Die See gibt allen Dingen ihren Unterricht.
Sie wogt und wogt und wogt, doch zu mir spricht sie nicht.
Erleichtert sah er, nachdem er aus der High Cliff in die Mount Road abgebogen war, die einladende Front des Hotels Hydro vor sich, Jacks absoluter Lieblingsunterkunft weit und breit. Das Hydro war ein ganz im edwardianischen Stil gehaltenes Haus, mit glanzvollen, prächtig möblierten Foyers und hohen Decken. Sein von Grund auf englischer Charakter wurde erfolgreich gepflegt und erhalten, wenn auch heutzutage hauptsächlich von Osteuropäern, was ihm aber, soweit Jack es sehen konnte, keinerlei Abbruch tat. In Omas Wohnung zu kampieren war nicht infrage gekommen. Die beredsame Stille in jenen hallenden Zimmern konnte einen das Gruseln lehren.
Nach dem Abendessen begab sich Jack an einen Tisch in dem großen Wintergarten, der an den Krocketplatz und den unsichtbaren Ozean dahinter angrenzte, bestellte sich eine Kanne vom stärksten verfügbaren Kaffee und nahm den Umschlag mit Alices Brief aus seiner Umhängetasche. Diesen Moment hatte er sich sozusagen aufgehoben, bis klar Schiff gemacht war. Eine Chance, die Stimme seiner Großmutter ein letztes Mal zu ihm sprechen zu hören.
Vorne auf dem Umschlag standen in Alices säuberlicher Handschrift die Worte: »Für meinen lieben Jack«. Er öffnete ihn mit einem leise gehauchten Seufzen, zog die gefalteten Blätter heraus, strich sie auf dem Tisch vor sich glatt und begann zu lesen.
Irgendwo draußen in der Dunkelheit, hinter dem Krocketplatz und der Straße, die daran vorbeiführte, und der unteren Hauptstraße und der Promenade und dem Kiesstrand, wogte unbeirrt die See.
3. Der Brief
Mein lieber Jack,
ich grüße Dich, mein wunderbarer Enkel. Falls Du es wissen willst – ich beginne diesen Brief auf dem Klappsekretär vor meinem herrlichen großen Fenster zum Meer. Die Sonne scheint (diese Stadt soll ja angeblich so ziemlich der sonnigste Ort in Großbritannien sein, weißt Du!), der Himmel ist blauer als ein Heckenbraunellenei, und die See liegt einfach da und dümpelt vor sich hin in selbstgefälliger Schönheit, geschmückt mit ihren schönsten Edelsteinen.
Ich erinnere mich gerade daran, wie Du hier mit mir meinen sechsundachtzigsten Geburtstag gefeiert hast. Das war eine unserer schönsten Zeiten, nicht wahr? Am Morgen ließ ich mich großzügigerweise von Dir die ganze Promenade bis nach Holywell schieben, und wir fanden wieder einmal heraus, dass das immer weiter weg ist, als wir denken. Dort haben wir einen anständigen Kaffee getrunken und uns über die Trägheit in der Politik unterhalten, und viel wichtiger, über die seltsame Wirkung, die die Laute