Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
Nicht dass sie Rationskarten oder irgendetwas zum Tauschen gehabt hätte – außer der Notiz aus „Porters Höhle“ trug sie nichts bei sich. Aber sie war neugierig und überwältigt von all den fremden Eindrücken in dieser sonderbaren Welt, die jahrelang ohne ihr Wissen Seite an Seite mit der vertrauten Umgebung der Innenstadt existiert hatte. Es roch sogar anders als im Stadtkern: Eine Mischung aus feinem Staub, dem Duft, der durch unzählige offene Küchenfenster wehte, und dem salzigen Geruch von Schweiß lag in der Luft.
Sie überquerten eine hölzerne Brücke über einem Rinnsal von einem Fluss, wichen einer Horde von Kindern aus, die einem zerfledderten Ball nachjagten, und stiegen über zerbeulte Mülltonnen, die umgefallen waren und über die Straßen rollten.
„Kein Platz für Jugendliche wie euch“, sagte der Wachmann gerade, als aus einer Seitengasse ein greller Schrei ertönte: „Stehen bleiben! So halte jemand den Dieb auf!“
Ein Junge mit tiefschwarzen Locken stürmte die Straße entlang, die sich mit der kreuzte, auf der sie gingen. Unter einem Arm trug er ein winziges, braunes Bündel, während er mit dem anderen heftig ruderte, als könne er sich selbst dadurch antreiben, noch schneller zu rennen. Immer wieder wandte er den Kopf nach hinten, um die zeternde Frau im Auge zu behalten, die seine Verfolgung aufgenommen hatte. Er war so beschäftigt mit ihr, dass er Mira, Vera und den Wachmann gar nicht bemerkte und beinahe direkt auf Vera knallte, die ihm am nächsten stand.
Bevor das jedoch passieren konnte, machte der Wachmann einen Satz und packte den Jungen am Kragen. Sofort begann dieser, wild um sich zu schlagen. Das braune Bündel fiel zu Boden, und Mira hob es auf. Es war ein Laib Brot.
„Habe ich dich“, lachte der Wachmann, der offenbar eine diebische Freude verspürte, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Weniger glücklich war die Frau, die in diesem Augenblick zu ihnen aufschloss. Sie riss Mira das Brot aus der Hand und begann, damit auf den Jungen, der wehrlos im Griff des Wachmanns festsaß, einzuprügeln.
„Du Rotzlöffel! Brot aus meinem Laden zu stehlen! Brot, das ich im Schweiße meines Angesichts gebacken habe!“
„Hören Sie sofort auf!“ Miras Einschreiten geschah so abrupt, dass nicht nur die Frau zurückwich, sondern auch der Wachmann den Griff um den Hemdkragen des Jungen lockerte. Das Kind stolperte einen Schritt zurück und geradewegs in Veras Arme, die in die Hocke gesunken war und es schnell an den Handgelenken festhielt. Intuitiv trat Mira halb zwischen die beiden und die aufgebrachte Frau.
„Schon gut“, beruhigte Vera hinter ihr den Jungen mit ihrer leisen Stimme. „Dir geschieht nichts. Es war ja nur ein Laib Brot. Du hast Hunger, was?“
„Nur ein Laib Brot!“, kreischte die Bestohlene. Mira fiel auf, dass sie keine verfärbte Schürze trug wie die anderen Frauen, die sie gesehen hatten. Überhaupt sah sie, bis auf ein paar Mehlspuren im dunklen Haar und den hochroten Kopf, sehr gepflegt aus. Sie trug eine weiße Bluse, deren Ärmel sie hochgekrempelt hatte, und unverkennbar glänzend neue Schuhe. Die meisten Menschen, denen Mira hier draußen begegnet war – einschließlich des schwarz gelockten Jungen neben Vera – trugen überhaupt keine Schuhe. Dabei war erst Frühjahr und das Wetter zwar trocken, aber kühl.
„Jedes einzelne Körnchen Getreide hat mein Mann eigenhändig auf den Feldern angebaut, geerntet und gemahlen!“, wetterte die Frau nun an den Wachmann gewandt. „Und nun ist das Brot nutzlos. Ich kann es nicht verkaufen, nachdem der da es mit seinen schmutzigen Händen angefasst hat!“ Angewidert nickte sie in Richtung des Kindes, über dessen staubige Wangen jetzt Tränen liefen. Trotzdem hatte sein Blick etwas unbestreitbar Trotziges. Mira ahnte, dass der Junge auf und davon wäre, sobald Vera ihn losließe. Fast wünschte sie, ihre Freundin täte es.
„Nur gut, dass ein Wachposten alles mitbekommen hat!“, fuhr die Frau fort. „In der Innenstadt verhängen sie lange Gefängnisstrafen für Diebstahl.“
„Aber er ist doch nur ein Kind!“ Miras entsetzter Ausruf wurde von einer Frauenstimme übertönt, die markerschütternd „Ari!“ schrie. Innerhalb von Sekunden war sie zu ihnen gestürzt.
Vera landete auf dem Hosenboden, so ungestüm fiel die Frau neben ihr auf die Knie und zog den Jungen an sich. Sie hatte die gleichen schwarzen Locken wie er, und ihre Kleidung war zerschlissen. In einem Tuch hatte sie sich einen Säugling umgebunden, der wie am Spieß brüllte.
„Ihr Sohn wurde auf frischer Tat beim Stehlen erwischt“, schaltete nun der Wachmann sich ein, während die Mutter ihr Gesicht in das zerzauste Haar des Jungen drückte und wehklagte. „Was machst du nur, Ari? Was machst du nur? Fünf Söhne, nichts als Sorgen! Nicht weinen. Es ist gut. Keiner darf dir wehtun, hörst du? Mama kümmert sich um alles.“
„Ich muss ihn mit in die Stadt nehmen“, sagte der Wachmann, als hätte er nichts von alledem mitbekommen, und griff nach Ari. Doch die Umklammerung der Mutter war stärker.
„Nein!“ Sie erhob sich und schob das Kind hinter ihren Rücken. „Nicht meinen Jungen mitnehmen. Ich zahle zurück, was er gestohlen hat. Ich verspreche es.“
„Zurückzahlen?“ Die Bestohlene bleckte die Zähne. „Richtiges Brot, ohne Laub oder Stroh, könntest du dir gar nicht leisten!“
Als wäre ihre kleine Menschenansammlung nicht schon aufsehenerregend genug gewesen, stieß in diesem Moment ein dickbäuchiger Mann zu ihnen. „Aber, aber“, sagte er und legte der Frau mit dem Brotlaib eine massige Hand auf den Rücken. „Was ist geschehen, Liebes? Warum bist du nicht in deinem Laden?“
„Wir wurden schon wieder bestohlen, Othmar.“ Seine Frau straffte die Schultern und hielt ihm anklagend das Brot entgegen. „Seit Monaten geht das nun so. Und immerzu sage ich dir, du musst härter durchgreifen. Aber dieses Mal …“ Sie sah zu Ari, der ihren Blick verbissen erwiderte. Die Tränen hatten glänzende Linien auf seinem schmutzigen Gesicht hinterlassen. „ … dieses Mal kommen sie damit nicht davon.“
„Sie wollen doch nicht etwa die Mutter dieser beiden Kinder mitnehmen?“, wandte der Dickbäuchige sich an den Wachmann.
„Den Jungen“, erwiderte dieser mit militärischer Knappheit. Die Frau quittierte dies mit einem grimmigen Nicken, und Aris Mutter begann wieder zu schluchzen, kniete neben ihrem Sohn nieder und drückte ihn so fest an sich, dass der Säugling zwischen ihnen noch lauter schrie.
„Meine Güte, wem ist denn damit gedient?“, entfuhr es Othmar. „Arbeitet dein Mann nicht auf meinen Feldern?“ Er wandte sich an die auf dem Boden kniende Mutter. Diese nickte mit steinerner Miene.
„Er soll die nächste Woche unentgeltlich arbeiten, und ich will die Sache vergessen.“
„Aber Othmar!“, protestierte seine Frau, doch er hatte schon ein ledergebundenes Notizbuch aus einer unter seinem mächtigen Bauch verborgenen Hosentasche gezogen und schrieb etwas darin auf.
„Ich wollte dich fragen, ob du Hilfe im Laden brauchst“, wandte Othmar sich schließlich wieder an seine Frau, als hätte er den Zwischenfall bereits vergessen. „Aber daraus wird nun nichts mehr. Ich muss schon in fünf Minuten wieder an der Scheune sein und Professor Winkelbauers Schülerin treffen.“
Mira riss den Blick von Ari und seiner Mutter los und besah sich Othmar genauer. Er trug Hemd und Stoffhosen wie jeder andere auch. Zwar zierten große Schweißflecken den Stoff unter seinen Armen, doch war er ansonsten kaum weniger gepflegt als jeder Staatsbeamte in der Innenstadt. Wie ein Landwirt sah er rein gar nicht aus.
„Das sind wir“, sagte Mira jedoch und streckte ihm die Hand entgegen. „Wir sind Professor Winkelbauers Schülerinnen.“
Othmar führte Vera und Mira durch eine Gasse, an deren Ende ein massiges Holzgebäude stand. Es hatte kein zweites Stockwerk, war dafür aber mehr als zehnmal so breit wie hoch. Neben den schmalen Häusern, die sich dicht an dicht in den Straßen des Armenviertels drängten, wirkte es geradezu lächerlich groß.
„Da wären wir.“ Othmar öffnete ein schweres Schiebetor und ließ sie in das Halbdunkel dahinter treten. Es handelte sich um einen Lagerraum. Leinensäcke, vermutlich voller Getreide,