Die Fischerkinder. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
ein Sohn, der eine viel zu große Last zu tragen hatte.
„Ich …“, stotterte Mira. „Ich glaube, es geht ihr heute sehr schlecht.“
Filip presste die Lippen zusammen. Innerlich schien er sich für das Schlimmste zu wappnen, und Mira fragte sich einmal mehr, ob Frau Petersen wohl tatsächlich im Sterben lag. Ohne ein weiteres Wort schob Filip sich an Mira vorbei, doch in der Tür zum Schlafzimmer hielt Vera ihn auf.
„Schon gut“, versicherte sie hastig. „Alles ist gut. Sie schläft jetzt.“
„Hat sie Tabletten genommen?“, fragte Filip in einem Ton, den Mira nur als barsch bezeichnen konnte.
„Heute Morgen. Lass sie schlafen, bitte, Filip. Komm doch mit uns nach oben.“
Filips Blick wanderte von der Schlafzimmertür zu Mira. Einen Wachmann – und sei es Veras Bruder Filip – dabeizuhaben war nicht unbedingt eine Freude, selbst wenn man kein verbotenes Buch unter der Bluse stecken hatte und darauf brannte, es hervorzuholen. Aber Vera hing nun einmal an ihrem Bruder und wollte ihn offenbar auf andere Gedanken bringen. Also rang Mira sich zu einem, so hoffte sie, aufmunternden Lächeln durch. Filip stieß die Luft aus und ließ sich von seiner kleinen, zierlichen Schwester durch das Wohnzimmer zur Treppe schieben.
„Wird sie wieder gesund werden?“, platzte Mira heraus, als sie Veras Zimmertür erreichten. Veras Blick huschte zu Filip, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Nein. Mira, weißt du …“
Aber Filip fiel ihr ins Wort: „Ich würde einen Themenwechsel sehr willkommen heißen.“ Umständlich dirigierte er die beiden in Veras Zimmer, wo sie sich auf das nicht gemachte Bett setzten. Auch hier waren die Vorhänge nur halb aufgezogen. Im gedämpften Tageslicht sah Mira einen Stapel Schulunterlagen, einen benutzten Teller und ein Paar Socken auf dem Boden liegen. Filip nahm die Unordnung mit gekräuselter Nase zur Kenntnis, sagte jedoch nichts.
„Wie sieht es aus?“, fragte Vera, während Filip weiterhin schweigend auf das Chaos starrte. „Hast du wieder etwas dabei?“
Miras Herz begann schneller zu schlagen, als sie an das Buch dachte, das unter ihrer Kleidung verborgen war. Aber natürlich musste es in Filips Anwesenheit dortbleiben. Genau wie ihr Vater war Filip geradezu besessen von der Verfassung und jedem Gesetz, das seit Staatsgründung erlassen worden war.
Und natürlich meinte Vera auch keineswegs das Buch unter Miras Bluse. „Kekse? Gummitierchen? Ersatzschokolade?“, fuhr sie hoffnungsvoll fort und bekam hinter ihrem zu langen, rotblonden Pony ganz große Augen. Vera liebte Süßes.
„Oh“, machte Mira. „Das habe ich ganz vergessen.“ Ihr Vater machte sich nicht viel aus den Zusatzprodukten, die man nur für die wertvollen Sonderrationskarten bekommen konnte. Für den Großteil der Bevölkerung rückten Dinge wie Süßigkeiten, Schmuck oder Tabak damit in unerreichbare Ferne. Nur Staatsbeamte und Wachmänner verfügten über ein monatliches Kontingent solcher Karten.
Gerald Robins, der von keinem dieser Luxusartikel viel hielt, überließ seine Sonderrationen meist Mira. Und die suchte mit Vorliebe nach etwas, das sie mit ihrer Freundin teilen konnte. Gebackene Kekse mit einer dünnen Schicht Ersatzschokolade, geröstete Sonnenblumenkerne in Honig oder die zähen Gummitierchen, die Vera besonders gerne naschte.
„Wie um alles in der Welt kann man Süßigkeiten vergessen!“, entsetzte sich Vera und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn wir solche Schätze zu Hause hätten, würde ich den ganzen Tag an nichts anderes denken!“
„Glaub mir“, schaltete Filip sich ein, der stocksteif auf der Bettkante saß, „du würdest nicht nur an sie denken, sondern den lieben, langen Tag nichts anderes tun, als zu essen!“
Er machte ein verdutztes Gesicht, als Mira in Lachen ausbrach, stimmte dann aber sogar ein klein wenig mit ein.
„Du lässt mich von deinen Sonderrationen ja nie Süßigkeiten aussuchen“, schmollte Vera.
„Und gewiss muss ich dir nicht die Gründe dafür darlegen. Mir steht lediglich eine einzige Sonderration im Monat zu, und die benötigen wir für Mutters Tabletten.“
Schuldbewusst senkte Vera den Kopf, und während auch sie so nachdenklich dreinschaute, sah sie ihrem ernsten Bruder sehr ähnlich. Mira konnte es nicht erwarten, Vera von dem Buch zu erzählen. Ein Geheimnis würde Vera aufheitern. Eines, das sogar spannender war als unzugängliche Lebensmittel.
Aber noch war Filip da und machte ihr das Sprechen unmöglich, obwohl Mira zugeben musste, dass auch er dringend eine Aufmunterung hätte gebrauchen können. Seine Miene versteinerte endgültig, als Vera irgendwann aufstand, um nach ihrer Mutter zu sehen, und Mira fühlte sich unbehaglich, mit ihm alleine zu sein. Filip konnte stundenlang schweigen, und wenn er sprach, dann oft so gewählt und umständlich, dass einem vom bloßen Zuhören schwindlig wurde. Vera sagte, das sei nur der Stress und die viele Verantwortung, aber Mira wurde den Gedanken nicht los, dass ihr Vater und seine Kollegen einen schlechten Einfluss auf Filip hatten. Bevor er in den Staatsdienst getreten war, war er eigentlich recht unbekümmert gewesen, und sie hatten sein breites, zähneblitzendes Lächeln viel öfter zu Gesicht bekommen.
„Kann man denn wirklich gar nichts machen?“, rang Mira sich zu einer Frage durch, weil sie das Gefühl hatte, von Filips eisernem Schweigen geradezu taub zu werden. Aber der schüttelte nur starr den Kopf.
„Ich könnte meinen Vater –“
„Nein, Mira“, unterbrach Filip sie. Wenigstens sprach er jetzt. „Du weißt, ich halte große Stücke auf deinen Vater. Aber in diesem Fall …“ Er stockte. „In diesem Fall sind auch ihm die Hände gebunden. Ich sollte aufbrechen“, fügte er im gleichen Atemzug hinzu und sprang auf, kaum war Vera wieder ins Zimmer getreten. „Ich erwarte, dass du dich um Mutter kümmerst. Ich habe Nachtschicht.“
Egal, wie schweigsam und ernst er war, konnte Mira es sich nur schwerlich vorstellen, dass ausgerechnet Filip einer der Wachmänner sein sollte, die des Nachts durch die Straßen patrouillierten. Sie kamen ihr, wohl auch wegen der regelmäßigen Mahnungen ihres Vaters, Angst einflößend und Respekt heischend vor. Filip, mit seinem rötlichen Haar und der gestelzten Ausdrucksweise, war keines von beidem. Sie hätte ihn sich gut als Rationenverteiler oder als Verwaltungsangestellten vorstellen können. Aber ihr Vater hatte ihm die Stelle in der Rechtsabteilung vermittelt und machte keinen Hehl daraus, dass er Filip, machte dieser seine Sache gut, auch weitere Türen im Staatsdienst öffnen würde. Türen zu höheren Posten, zu wichtigeren Aufgaben und zu größerem Ansehen.
„Jemand muss sich des Jungens annehmen“, wehrte er brüsk ab, wenn seine Frau ihn für sein fürsorgliches Verhalten rühmte. „Sein eigener Vater ist dazu ja nicht imstande.“
Dass ihr Vater so über Herrn Petersen sprach, missfiel Mira. Aber sie war auch froh, dass er zumindest eine so hohe Meinung von einem Mitglied der Familie Petersen – und sei es nur Filip – hatte. Deshalb beschwerte sie sich nicht.
Herr Petersen war vielleicht ein komischer Kauz, aber er war auch einer der nettesten Menschen, denen Mira je begegnet war. Und heute zählte Mira sogar auf seine Zerstreutheit, die sich für ihren Plan als ausgesprochen praktisch erweisen konnte, denn Herr Petersen bekam beinahe ebenso wenig von dem mit, was um ihn herum geschah, wie seine meist schlafende Frau.
Erst einmal war Mira jedoch, nachdem Filip zum Dienst aufgebrochen war, mit Vera alleine. Kaum war die Haustür hinter ihrem Bruder ins Schloss gefallen, fragte diese: „Sagst du mir jetzt, was dir auf der Zunge brennt?“
Mira sog überrascht die Luft ein, und das raue Leder des Buches stieß dabei gegen ihren Bauch. Die meiste Zeit hatte sie es deutlich in seinem Versteck fühlen können.
Vera pustete sich die Ponyfransen aus der Stirn und lachte. „Wusste ich es doch, dass du ein Geheimnis hast! Wenn man dich kennt, bist du ein offenes Buch, Mira.“
Auf dieses Stichwort hin zog Mira ihre Bluse aus der Hose und ließ das kleine Büchlein auf die Bettdecke fallen. Vera sah ihr zuerst verwirrt, dann mit geweiteten Augen dabei zu. „Mira“, wisperte