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Digital_Pausen - Hans Ulrich GUMBRECHT


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Hauptwerk »Sein und Zeit«, wo er vom Tod als Schicksal der individuellen Existenz schreibt, dem wir uns »entschlossen« und »offenen Auges« aussetzen sollen; später dann und mit wachsender (aber nie definitiver) Klarheit in der Charakterisierung von »Wahrheitsereignissen« als Momenten der »Selbstentbergung des Seins« – wo sich Dinge dem Dasein perspektivenlos, in ihrer Absolutheit also, zeigen sollen, um als Schicksal das Dasein zu überwältigen und in eine existentielle Richtung zu »schicken«. (die implizite Unterstellung eines wortgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen »Schicksal« und »schicken« ist übrigens – wie Spekulationen dieser Art meistens bei Heidegger – einfach falsch). Doch wie der »Blitz« in Hölderlins Gedicht und wie eben auch Heideggers »Selbstentbergung des Seins« haben literarische und philosophische Darstellungen, die das Schicksal in einem und dann immer überwältigenden Moment kondensieren, ihre eigene – ästhetische – Aura und Verführung, die es uns ermöglicht, das aller Selbstbestimmung entgegenstehende Überwältigtwerden in eigene heroische Größe umzumünzen und so zu genießen.

      Eine andere bildliche und begriffliche Darstellungstradition hingegen wirkt (auf mich zumindest) vergleichsweise gnadenlos und sowohl philosophisch als auch existentiell produktiver. Die stoischen Philosophen der späteren Antike haben Schicksal als series causarum (als Reihe oder als Verknüpfung von Gründen) beschrieben, und zum allegorischen Bild der griechischen Moiren oder der römischen Parzen als Schicksalsgöttinnen (die ursprünglich Geburtsgöttinnen waren) gehören eine Spindel, aus der das Garn des Lebens läuft, und das in dieses Garn eingewebte Schicksalsmuster. Anders als der Blitz oder die Epiphanie des Seins, die uns Menschen zu im doppelten Sinn des Worts »reinen« Opfern machen, so dass wir uns keine Verantwortung zuschreiben müssen und deshalb von Schuld ganz frei sind, gehören zum Schicksal als »Serie von Gründen« oder als »Lebensgarn« durchaus Momente, Entscheidungen und Akte, die wir als unsere eigenen sehen können und müssen, für die wir selbst verantwortlich sind. Sie kreuzen sich, sie sind »verwoben« mit äußerlichen, fremdbestimmten Momenten und fremdbestimmenden Ereignissen, welche die negativen Folgen und die Schuld selbstbestimmter Akte oft so intensivieren, dass sie irreversibel werden: unumkehrbares Schicksal und am Ende nicht mehr aufzuhebende Schuld, die eigene Verantwortung wächst ins Monströse.

      Wenn wir uns erst einmal in solchen series causarum verfangen haben, gefällt es uns oft – denn es wirkt wie eine erleichternde Übertreibung –, über sie als eben unumkehrbares (und ohnehin: unverdientes) Schicksal zu klagen – weil uns eine solche Selbstsicht von Verantwortung oder Schuld zu erlösen verspricht. Bei allen Forderungen nach Selbstbestimmung ist es aber auch klar, dass wir Selbstbestimmung ohne weiteres drangeben, wenn uns eine Umkehr ins Gegenteil Entlastung verschafft. Das sind die Augenblicke, in denen wir entdecken, dass die Moiren und die Parzen heimlich schon das Garn um unseren Hals geschlungen und begonnen haben, es enger zu ziehen, wie bei einer von Michael Corleone ausgedachten Mafia-Exekution.

      Für meine Kontamination des antiken Mythos mit dem Hollywood-Mythos bitte ich den gebildeten Leser um Entschuldigung. Nicht zu weit vom Berliner Pergamon-Altar hat sie, die Kontamination, mir geholfen, meinen bleiernen Tag zu verweben mit dem Schmerz eines pazifischen Morgens.

      Ich versuche, Notizen von zwei Seminarsitzungen und einem Kolloquium über den Begriff »Vitality« in eine argumentative Ordnung zu bringen, die sich in noch vagen Zügen anzubieten scheint. Dabei geht es nicht primär um eine historische Rekonstruktion der von Nietzsche intendierten Bedeutung – und ebensowenig um die philosophiegeschichtliche Auslegung eines auf Nietzsche bezogenen, 1951 zuerst veröffentlichten Essays von Martin Heidegger, aus dessen Perspektive wir den Satz »Gott ist tot.« erörtert haben. Interessiert bin ich an der (von Heideggers Text ermutigten) Intuition, dass es eine Bedeutung geben könnte, durch die Nietzsches Satz eine Gültigkeit in unserer Gegenwart bewahrt. In einer Gegenwart erstens, die es für Intellektuelle wieder akzeptabler macht als im späten neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert, mit der Existenz eines Gottes zu rechnen; in meiner amerikanischen Gegenwart zweitens, wo (habe ich einmal gelesen) über neunzig Prozent der Mitbürger damit rechnen, dass es einen persönlichen Gott gibt, der sie liebt.

      Nietzsche hat sich auf denselben Sachverhalt, den er im Satz von Gottes Tod anvisiert, wohl auch mit der Formulierung vom »Nihilismus« bezogen, der sich »wie eine Wüste ausgedehnt« habe und weiter ausdehne. Das Wort »Nihilismus« bezeichnet dabei eine Form der menschlichen Existenz, die nicht mit einer den Menschen übergeordneten, für sie »transzendentalen«, zum Beispiel von Göttern bewohnten Sphäre rechnet. Unter dieser Voraussetzung könnten wir, so sah es Heidegger, den sonst in unserer intellektuellen Tradition meist positiv gesehenen Prozess der Neuzeit, einschließlich der Aufklärung, dessen zentrale Dynamik die Dynamik der »Säkularisierung« war, als fortschreitende »Ausdehnung des Nihilismus« identifizieren.

      Säkularisierung aber ist nichts anderes als die Umschreibung von Eigenschaften und Funktionen der Götter auf die Menschen: Anstelle der von Gott geoffenbarten Tafel-Gebote aus dem Alten Testament treten eine neue Moral und Gesetzbücher, deren Legitimität darin liegt, dass ihre Orientierungen von der Mehrheit der Betroffenen akzeptiert und getragen werden; im neuzeitlichen Begriff von »Geschichte« verstehen sich die Menschen als Agenten einer permanenten (nicht selten als zielgerichtet aufgefassten) Veränderung der Welt, welche ein von Gott oder von den Göttern verhängtes Schicksal ersetzen soll; ein den Normen und Gesetzen entsprechendes Leben soll durch Erfolg und Sicherheit im Diesseits belohnt werden, nicht mehr durch ein himmlisches Leben nach dem Tod. Dies sind nur einige Beispiele aus der Vielfalt von Figuren der Säkularisierung.

      Nietzsche deutete die ihm auffällige Tendenz seiner Zeitgenossen, nach »Werten« zu suchen, als eine Reaktion auf den Prozess der Säkularisierung (auf die Ausdehnung der Wüste des Nihilismus) und auf sein Endergebnis. Denn mit der fortschreitenden Absorption der Gegenstände des Glaubens und mit ihrer Überschreibung auf die Menschen waren jene höheren Orientierungen verschwunden, an denen das Leben früher selbstverständlich ausgerichtet war.

      Während des vergangenen halben Jahrhunderts haben sich – oft auf Veränderungen im Alltag reagierend – philosophische Positionen herausgebildet, in denen der Prozess der Säkularisierung und die Ausdehnung des Nihilismus zu einem logisch nicht mehr überbietbaren Höhepunkt und Ende gekommen sind. Das ist zum einen die vom Begriff »Linguistic Turn« markierte Überzeugung, dass mit den Horizonten der menschengemachten Sprache auch die Grenzen des für Menschen erreichbaren Wissens vorgegeben seien; das ist zum zweiten der »Konstruktivismus« als intellektuelle und auch praktische Anwendung der These, dass sich hinter viel (oder hinter allem) von dem, was wir für »Tatsachen« halten, »soziale Konstruktionen von Wirklichkeit« verbergen. Doch selbst in unserer (ganz wörtlich: vollkommen) säkularisierten Welt kann man sich dazu entschließen, an Gott zu glauben – und es ist sogar denkbar, dass solcher Glaube gerade durch die Vollendung der Säkularisierung wieder wahrscheinlicher und plausibler geworden ist (etwa weil nun keine existentielle Energie mehr in den Prozess der Säkularisierung zu investieren ist). Nur gehören solche Entscheidungen, an Gott zu glauben, in die Sphäre des Privaten, sie setzen die Existenz Gottes nicht mehr – wie es vor dem Beginn der Säkularisierung der Fall gewesen war – im Sinn derselben Wirklichkeit voraus, zu der man etwa die Natur oder die Politik oder den Sex gerechnet hatte. So gesehen bleibt Gott tot (und Nietzsches Feststellung zutreffend), selbst wenn viele unserer Zeitgenossen – privat – zu ihm zurückgekehrt sind.

      Ein besonders eklatanter Fall dieses spannungsfreien Nebeneinanders zwischen privatem Glauben an Gott und seinem Verschwinden als transzendentaler Prämisse des Alltagslebens ist die amerikanische Gesellschaft. Dort gehört zu einer demographischen Minderheit, die man fast als »Splittergruppe« charakterisieren muss, wer privat nicht an Gott glaubt; doch auf der anderen Seite mussten die zwei Wörter under God vor wenigen Jahren aus dem Fahneneid (one Nation, under God) gestrichen werden, weil er zur Dimension des Öffentlichen gehört.

      Bleibt die Frage, ob die konsequente Säkularisierung und Privatisierung des Gottesglaubens einen Verlust zur Folge hat, den wir spüren, ohne ihn im gegebenen Zusammenhang noch zu verstehen. Heidegger folgt hier Nietzsche, der statt der Suche nach Werten als erster Reaktion zum Tod Gottes


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