Wu. Frank RudolphЧитать онлайн книгу.
und danach gleich wieder zurück.« Auch wenn diese Sätze nach dem typischen Gerede der alten Generation klingen, stimmen sie in diesem Fall. Einige Biographien belegen manchmal sehr dramatisch, unter welchen Umständen die Schüler früher oft lernen mussten.
Auch der wahrscheinlich letzte echte Erbe des ninjutsu (忍術), Hatsumi Masaaki38, musste riesige Entfernungen zurücklegen, um etwas von seinem Lehrer lernen zu können. Somit war jede Minute Lehrzeit etwas besonders Kostbares. Kaum jemand würde heutzutage noch solche Mühe auf sich nehmen, um in den Genuss einer exklusiven Lehrstunde zu kommen, so dass das Verständnis für diese Art Opferbereitschaft zusehends verlorengeht. Dabei muss jedem klar sein, dass die alten Meister ihr Wissen nicht einfach so in einer Schule oder einem Verband weitergeben, selbst nicht für viel Geld. Dieses Wissen musste man sich früher verdienen, man musste seiner würdig sein. Es ist eine Illusion zu glauben, ein Meister würde sein Wissen preisgeben, nur weil man vielleicht einmal Tee mit ihm getrunken und ein paar Worte gewechselt hat. Wenn man sich vor Augen führt, wie schwer die Lehrzeit für die alten und echten Meister war, wird man sehr schnell verstehen, dass sie niemals ihr Wissen verschleudern werden.
Insgesamt ist die Kultur der kriegerischen Künste heute im Untergang begriffen. Im Falle des Shaolin verläuft diese Entwicklung meiner Ansicht nach sehr negativ, selbst wenn das Negative, wie noch gezeigt werden soll, auch positive Aspekte in sich birgt. Früher war das Oberhaupt des Shaolin-Tempels derjenige, der die Lehre des Buddhismus, die Kampfkunst und das Leben an sich am tiefsten verstand. Er musste nicht nur die technischen Aspekte gemeistert haben, sondern auch die geistigen. Das galt für die Dinge des Lebens wie für die menschliche Natur.
Auf den heutigen obersten Abt des Shaolinklosters Shi Yongxin39 (释 永信) trifft dies alles nicht zu. Sein Amt ist heute als das eines Geschäftsführers zu verstehen. Das Shaolin ist eine Firma, eine Handelsmarke, die jährlich Millionenumsätze verbucht. Über all den geschäftlichen Angelegenheiten bleibt keine Zeit mehr für die einst so effektive Kampfkunst. Seit einigen Jahren sind Massenabfertigungen von Lernwilligen gang und gäbe. Qualität kann man dabei natürlich nicht erwarten. Das wushu von Shaolin ist an einem Tiefpunkt angelangt und reißt andere Kampfkünste mit sich in den Abgrund. Mit echter Kampfkunst ist kein Geld zu machen, wohl aber mit dem Anschein davon. Shaolin hat dies verstanden und hat damit Maßstäbe für ganz China gesetzt.
Diese kritische Sicht auf die Kommerzialisierung der Kampfkünste beleuchtet nur einen Teil der Wahrheit. Das Gebiet um Shaolin (Dengfeng 登封) war früher eine der ärmsten Gegenden der Provinz Henan. Die Einheimischen hatten ein sehr niedriges Einkommen und führten ein bitteres Leben. Aber durch die richtige Vermarktung und den daraus folgenden Tourismus sind aus diesen armen Bauern wohlhabende und finanziell sorgenfreie Bürger geworden. 38 Prozent aller Menschen um Shaolin bestreiten ihren Lebensunterhalt vom Tourismus. Heißt das nicht, dass Shi Yongxin es richtig macht? – Auf der einen Seite gibt es die Shaolin-Tradition und deren unzeitgemäße Ideale, die vielleicht selbst in der Vergangenheit niemals tatsächlich umgesetzt werden konnten. Auf der anderen Seite gibt es die Chance, die Berühmtheit des Shaolin zu nutzen, um die wirtschaftliche Lage der Menschen der Region zu verbessern.
Tatsächlich geht es nach den Statuten des Klosters darum, Gutes für die Menschen und die Gesellschaft zu tun und das Land zu beschützen. Und das wird heute vielleicht sogar besser umgesetzt als in all den Jahren, in denen das Kloster nur den Mönchen gehörte. Ein verschlossenes und traditionell verstaubtes Shaolin hat gar nicht die Möglichkeit, in dieser Größenordnung Gutes zu tun. Ist es deswegen nicht so, dass Shi Yongxin für die Menschen und die Gesellschaft den richtigen Weg einschlägt? Durch seine Leitung des Shaolinklosters und dem daraus resultierenden Profit hat sich das Leben vieler Menschen verbessert, egal ob bei der Bildung, der medizinischen Versorgung oder dem Einkommen der Bürger. Das sollte man auf jeden Fall berücksichtigen.
Die Meinung vieler Menschen des Abendlandes, die Vermarktung und Verwestlichung sei schlecht für Shaolin und für ganz China, zeugen von einer unausgewogenen Sicht auf die Dinge. Es läßt sich leicht von fernöstlichen Idealen reden, wenn man ein abgesichertes westliches Leben führt.
In Japan hatte man die Kampfkünste als Markt im übrigen viel eher entdeckt. Nakayama Masatoshi40 wird oft als Papst des Karate bezeichnet. Diese Bezeichnung ist nicht abwegig. Wer sich in der Welt des Karate auskennt, weiß, daß Nakayama technisch nicht herausragend war. Er berief sich zwar gern auf Meister Funakoshi als seinen Lehrer, doch war er im wesentlichen nur Schüler von dessen Schülern. Allerdings besaß er unbestreitbar organisatorisches Talent. Er baute die JKA41 auf, die heute einen der größten Verbände für Kampfsport darstellt. Nakayama besaß die entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Kontakte, um der JKA schnell einen weltweiten Ruf zu verschaffen, mit Zweigstellen rund um den Globus. Er war einer der ersten »Geschäftsführer« in der Kampfkunstszene. Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Kultur des Karate zu einem sehr erfolgreichen Business werden konnte.
Diese Beispiele stehen stellvertretend für nahezu alle Richtungen der Kampfkunst. Einige Kampfstile haben sich jedoch der heutigen Markt- und Profitgesellschaft angepasst und sich trotzdem einen Teil ihrer Kampfstärke und andere Eigenschaften erhalten können. Dies gilt beispielsweise für das Kyokushin-Karate von Oyama Masutatsu42 .
Das Kyokushin-Karate gilt als eine der kampfstärksten heutigen Kampfsportarten. Diese Schule war ein Wegbereiter für das erfolgreiche und profitable K-1-Wettkampfgeschäft.43 Das kyokushin hat sich zwar in eine kommerzielle Sportart gewandelt, aber sich dennoch etwas von seinem alten Wesen bewahren können. Dieses Beispiel zeigt, wie die Kultur des wushu und der Kampfkünste allgemein heute sein könnte und vielleicht sein sollte.
dong quan bu liu qing, liu qing bu dong quan
Zuschlagen ohne Nachsicht (Mitgefühl),
aus Mitgefühl (Nachsicht) nicht zuschlagen.
Der Xiake-Geist
Die Verkörperung des höchsten Ideals in der chinesischen Wushu-Kultur ist seit frühester Zeit der xiake (俠客). Im alten China war der xiake ein Kämpfer, dessen Handeln durch Edelmut geprägt war.
Ausschnitt eines chinesischen Drucks aus dem 19. Jahrhundert; zu sehen sind 8 der 108 Räuber vom Liangshan-
Die xiake waren zwar meist Einzelgänger, die keinem Herrn folgten, doch wenn es die Umstände geboten, bildeten sie auch Gruppen oder manchmal Armeen aus Individualisten, die sich – wenn auch nur oberflächlich – vom Konfuzianismus zu lösen vermochten. In dem bekannten Roman »Die Räuber vom Liangshan-Moor«44, werden 108 bekannte xiake der Song-Dynastie dargestellt. Sie wurden, ganz ähnlich den Sherwood-Forest-Gefährten Robin Hoods, mehr oder weniger unfreiwillig zu Gesetzlosen und lebten und handelten nur nach den Regeln ihres Gerechtigkeitsempfindens. Und so, wie sich Robins Gesellen im Bogenschießen übten, trainierten auch die chinesischen xiake ihre Kampfkünste. Die Bezeichnung »chinesischer xiake« stellt hier keine Verdopplung dar, sondern verweist darauf, dass es in der Weltgeschichte und -literatur immer wieder Charaktere gegeben hat, die alle Attribute eines echten xiake aufwiesen.
Es gibt eine ganze Reihe Gestalten in fast jedem Kulturraum, die den chinesischen Helden vom Wesen her gleichen, so z. B. die europäischen Ritter. Dies gilt nicht so sehr für die ordinierten milites der geistlichen Kriegerbünde, sondern eher für die weltlichen Kavaliere, die Cervantes mit seinem Don Quijote so herrlich persifliert hat. Fahrende Ritter erfüllen nahezu alle Voraussetzungen für einen xiake, mit dem Unterschied, dass in China auch Frauen zu den xiake gehören konnten. Ihre Ideale wie Würde, Treue, Demut, Zurückhaltung, Beständigkeit und Tapferkeit lassen sich noch heute noch mit dem Wort »ritterlich« zusammenfassen und wären sicher auch von den chinesischen oder japanischen Kriegern akzeptiert worden. Verschiedene Heldenepen erzählen von diesen westlichen xiake. Die Legendensammlung rund um die Ritter der Tafelrunde und zum Teil die Nibelungensage zeigen uns einen stark idealisierten Typus. Reale Entsprechungen