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Das letzte Sandkorn. Bernhard GierscheЧитать онлайн книгу.

Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche


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Welt der Sehenden war auch ihre Welt geworden, auch wenn der Begriff »Sehen« für sie auch nach zweiunddreißig Jahren Blindheit ein abstrakter war. Ihr fehlte nichts, sie hatte nach ihrer Auffassung keine Defizite. Defizitär war nur die Welt.

      Sie käme wunderbar zurecht, wäre nur die Gestaltung der Umwelt von Blinden vorgenommen worden und nicht von den Sehenden, die Leute wie sie in ihren Planungen nicht berücksichtigten.

      Erst in den letzten Jahren hatte man auch an die »Nicht-Seher« gedacht und Rillen in die Straßen und Gehwege gefräst, um auch ihnen eine Orientierung zu geben.

      Akustische Signale an Ampeln und Computer, die in Brailleschrift oder durch akustische Wiedergabe von Texten Informationen übermittelten, erleichterten das Leben. Alles Dinge, die von »Sehenden« erdacht und geschaffen wurden und somit höchst defizitär waren.

      »Yvonne.« Yvonne hatte es drauf. Yvonne war zwar eine »Sehende«, aber wie niemand sonst verstand sie es, sich in sie hineinzuversetzen.

      Yvonne verband sich die Augen, wenn sie zu Besuch kam und Yvonne hatte ihr versprochen, immer da zu sein, wenn es mal schlecht lief.

      Yvonne wohnte gar nicht weit von hier und sie hatte ihre Lehrerin und Freundin schon oft besucht, einfach um zu plaudern und um den Tag nach Feierabend mit ihr zusammen zu genießen. Manchmal hatte Yvonne den Grill angemacht und ihr beschrieben, wie der Garten aussah. Yvonne konnte das. Sie führte sie in den Garten und ließ sie die Blumen und Kräuter fühlen. Sie besaß einige Hühner und Yvonne schickte sie alleine los, um nach Eiern zu »sehen«.

      Und kichernd kroch sie manches Mal durch den Hühnerstall und tastete über Hühnerkacke und Stroh hinweg nach diesen warmen, harten und doch so zerbrechlichen, ovalen Dingern, die sie gekocht oder gebraten so sehr mochte. Yvonne hatte Zwillinge, zwei ganz süße Mädchen, die ihr manchmal etwas vorlasen und ihr Dinge beschrieben. »Kinder verstehen Blinde besser«, hatte Yvonne immer gesagt. »Weil sie das Blindsein akzeptieren und nicht interpretieren.« Becki liebte Yvonnes Kinder, sie sahen gut aus. Sie sahen warm aus.

      Yvonne würde ihr helfen, sie hatte es versprochen.

      Sie nahm ihre Lederjacke vom Haken und öffnete ihre Haustür. Draußen war es nach dem Getöse der letzten zwei Stunden unheimlich ruhig geworden.

      »Scheiße«, sagte sie wieder. Zurück ins Wohnzimmer. Den umgestürzten Tisch einschätzend, begab sie sich auf ihre Knie und tastete nach der Zigarettenschachtel, die sie schnell fand. Das Feuerzeug allerdings blieb unauffindbar, und wieder fluchte sie laut vor sich hin.

      Ihre Nase nahm nun einen Geruch war. Brand. Feuer. Gestank.

      Darauf war sie geschult worden von Kindesbeinen an. Dieser bestimmte, unverwechselbare Geruch eines Brandes. Olfaktorisch war die Analyse klar, mit Ohren und Nase konnte sie den Herd des Feuers in seiner Richtung und Ausdehnung bestimmen. Das Haus brannte.

      Becki wollte gerade aufstehen, als ihr kleiner Finger gegen das Feuerzeug stieß.

      Sie nahm es an sich, steckte es in die Brusttasche der Lederjacke und ging erneut in Richtung Haustür.

      Direkt neben der Tür stand ihr Blindenstock, ihre lebensnotwendige Verlängerung des Tastsinnes. Den ergriff sie, verließ die Wohnung und zog die Haustür zu. Der Stock ließ sich so zusammenfalten, dass er zur Not in einen Rucksack passte.

      Ein Geruchsinferno drang in ihre Nase, sämtliche taktilen Rezeptoren übermittelten die Information »Hitze, Brand, Feuer« in ihr Hirn und sie eilte die zwei Stockwerke die Treppe hinunter, um aus dem Haus zu kommen.

      Ganz klar und ohne jede Gefühlsregung nahm sie zur Kenntnis, dass keine Menschen riefen und keine Sirenen heulten und alles vollkommen anders war, als es hätte sein müssen in so einer Situation.

      Auch die Geräuschkulisse auf der Straße war anders. Überall knackte und knisterte es, aus der Ferne war ein Dröhnen zu vernehmen – nur für sie. Das Flugzeug, das sich näherte, um in acht Minuten in den Dom zu stürzen, war für »Sehende« noch nicht zu hören. Hier gab es sonst keine Flugzeuggeräusche.

      Sie nahm das alles in Sekundenbruchteilen wahr. Es veränderte das innere Bild, das sie von ihrer Umgebung hatte, und das war eindeutig und schrecklich zugleich.

      Andere sahen. Becki fühlte und hörte. Intensiver und unendlich feiner als Augen Wahrnehmungen an das Gehirn weitergeben konnten.

      Was Brigitta Becker wahrnahm, war die totale Veränderung der Sphäre, ihrer inneren Landkarte.

      In Verbindung mit dem, was in ihrem Kopf stattgefunden hatte, war ihr schneller als den meisten der sieben Milliarden Menschen auf dem Erdball klar, dass alles was war, nun zu Ende ist. Sie musste zu Yvonne.

      In ihrem Kopf existierte eine sehr exakte Landkarte über ihre Umgebung. Details, die die »Sehenden« gar nicht mehr wahrnahmen, weil sie ohne Bedeutung sind, sind für Blinde Leuchttürme.

      Ein Busch, eine Unebenheit im Gehweg, ein Geruch, ein Gullydeckel. Tausende Fragmente fügen sich zu einem inneren Bild zusammen und »Nicht-Sehende« erschaffen daraus eine eigene Geographie.

      Brigitta stolperte allerdings schon nach wenigen Metern und fiel unsanft. Sich bei Stürzen abzurollen, den Sturz zu mildern und sanfter als »Sehende« zu landen, hatte sie von Geburt an gelernt. Trotzdem war der Sturz hart. Sie war zu schnell gelaufen, hatte den Blindenstock eigentlich gar nicht benutzt und so war das Hindernis auf dem Gehweg zur Stolperfalle geworden.

      Als sie herauszufinden versuchte, was sie da zu Fall gebracht hatte, hielt sie plötzlich die Hand eines Menschen in der Hand. Da lag jemand auf der Straße. Sie tastete ganz schnell an dem Arm entlang, ihre Finger glitten federleicht in Richtung des Gesichtes des Menschen, der da auf dem Gehsteig lag und sie tastete über dessen Kinn in eine große, feuchte und noch warme Öffnung an der Stelle, wo die Augen des Menschen hätten sein müssen. Sie begriff, dass sie ihre Hände eine fürchterliche Verletzung berührten und dass der Mensch vor ihr, ein Mann, tot war.

      Ein kehliger Laut entrann ihrem Mund und sie stolperte von der Leiche weg. »Aaaaahhhhhhhh, IIiiiiiihhhhh« schrie sie aus voller Kehle und »Hiiiilfe« und »Scheiße«, sowieso ihr Lieblingswort.

      Am Randstein fand sie ihre Orientierung wieder und sie lief, so schnell es ihre Sinne zuließen, weiter die Straße entlang Richtung Yvonnes Haus.

      Ihren Blindenstock hatte sie in ihrer Panik bei der Leiche des Mannes zurückgelassen.

      Sie hörte, dass sich ein Auto näherte, sehr schnell näherte, und so schnell an ihr vorbeifuhr, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob sie versuchen sollte, den Wagen anzuhalten. Bald verlor sich das Geräusch des Motors in der Ferne.

      Brigitta wusste, dass sie jetzt in Höhe von Yvonnes Haus sein musste. Da war die niedrige Buchsbaumhecke, anschließend ein Eisenstab, der in einer Einfahrt stand (in Wirklichkeit eine Laterne), und danach begann Yvonnes Reich. Yvonne musste zu Hause sein, sie tastete den Wagen, der in der Einfahrt stand. Es roch seltsam. Ein neuer Geruch, den Brigitta nicht kannte, drang aus dem Wagen. Doch, sie kannte ihn doch. Aber erst seit wenigen Minuten.

      Yvonne und sie waren öfter mit diesem Auto gefahren, Becki hatte das Auto sofort an der Form identifiziert. Es war ein Cabriolet und Becki hatte unendliche Freude daran gehabt, mit Yvonne darin zu fahren. Das Verdeck war nun allerdings geschlossen.

      Sie tastete an der Fahrerseite entlang und fand den Türgriff. Als sie daran zog, öffnete sich die Tür und der neue, seltsame und irgendwie abstoßende Geruch verstärkte sich.

      Es roch wie der tote Mann auf dem Gehweg.

      Brigitta weinte, ihre funktionslosen Augen ließen Ströme von Tränen fließen. Sie brauchte ihre Hände nicht, um zu wissen, was in dem Auto war. Sie nahm es auf eine höhere Art und Weise wahr.

      Nicht, um sich Gewissheit zu verschaffen, sondern um Abschied zu nehmen, griff sie nach dem Kopf der toten Yvonne, die hinter dem Lenkrad saß. Sie streichelte die erkaltenden Wangen und fuhr mit den Händen die Konturen des Gesichts nach. An der schrecklichen Kopfwunde verharrten ihre Finger und tiefste Trauer durchströmte sie. Aber da war noch mehr in dem


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