Tod eines Clowns. Petra GabrielЧитать онлайн книгу.
die Stelle als zweiter Pausenclown bei Reiz bekommen. Er hatte sich zudem bereit erklärt, Holger und seiner Familie in der Wohnung, die er vom Vater geerbt haben sollte, gegen einen geringen Obolus ein Zimmer zu überlassen. Die Miete war für drei Monate im Voraus bezahlt.
In den letzten Tagen hatte Gericke Stück für Stück ihre Habe in diesem Zimmer untergebracht. Es handelte sich um Dinge, die ohne Aufsehen zu transportieren gewesen waren, um Schmuck und Familiensilber und alles, was den Krieg überstanden hatte. Anita, geborene Bernauer, war eine Frau aus gutbürgerlichem Hause. Ihr Vater war Arzt der Nationalen Volksarmee und Leiter der Bad Saarower Kliniken, des zentralen Armeelazaretts, gewesen. Er hatte sich von seiner Frau scheiden lassen, als diese in den Westen ging. Ihr Engagement bei der SPD hatte er ohnehin nie gebilligt, es ihr aber auch nicht verwehrt. Mit ihr in den Westen zu flüchten, weg von der Arbeit, die er liebte, hatte er sich nicht vorstellen können.
Anita war nach dem Weggang der Mutter beim Vater geblieben. Der war nicht sonderlich begeistert gewesen, dass sein Liebling, die einzige Tochter, einen Zirkusdompteur heiraten wollte. Holger Gericke und sie waren sich zufällig auf der Straße begegnet, als sie in Berlin einkaufen gewesen war. Anita wurde von einem Mann angerempelt und ging mitsamt den Tüten zu Boden. Dann stellten sie fest, dass ihre Geldbörse verschwunden war. Holger Gericke legte ihr das Geld für die Heimfahrt aus. Beim nächsten Treffen, bei dem sie ihm das Geld zurückgab, verliebten sie sich Hals über Kopf. Am Ende hatte Anitas Vater trotz seiner Bedenken keine Einwände gegen ihre Heirat. Er war zwar durch und durch ein Militär gewesen, aber auch ein Mann mit großem Herzen und weitem Denken. Das war in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit. Nun ja, vielleicht ahnte er auch, dass seine Tochter ein Kind erwartete. Anita schwor bis heute, dass sie es ihm erst nach der Hochzeit erzählt habe.
Vor zwei Jahren war ihr Vater gestorben. Holger Gericke war ihm bis heute dankbar für sein Vertrauen und hoffte inständig, dass er sich dessen als würdig erwies.
Diese Hoffnung fiel eine halbe Stunde später innerhalb weniger Minuten in sich zusammen. Als sie in der Turmstraße ankamen, war es still in der Wohnung, und auch auf das Klingeln hin rührte sich nichts. Holger Gericke machte sich noch keine Sorgen, er hatte ja den Schlüssel. Auf direktem Weg führte er seine Familie in das helle Zimmer im Vorderhaus, das Karl an ihn untervermietet hatte.
Anita und Holger Gericke lächelten einander zu. Geschafft! Sie waren endlich in ihrem neuen Leben angekommen. In einem Leben, in dem eine Tochter ihre kranke Mutter so oft besuchen konnte, wie sie wollte.
Als die Tür aufschwang, schien die Frühlingssonne auf abgezogene Dielen – in einem komplett leeren Zimmer. Holger Gericke und seine Frau erstarrten. Sie konnten zunächst nicht glauben, was sie sahen. Als sich Gericke schließlich gefasst hatte, stürmte er los, öffnete die beiden anderen Zimmertüren, die Tür zur Küche, zum Bad. Die Räume waren ebenfalls vollkommen leer und wurden nur noch von der Stille bewohnt. Von Karl, dem Freund, war nichts zurückgeblieben, nicht die kleinste Spur. Er war fort. Mit allen Möbeln. Und der gesamten Habe der Familie Gericke.
Anita Gericke schwankte. Ihr Mann konnte sie gerade noch auffangen.
Auch ihm wären fast die Tränen in die Augen geschossen, doch er bemühte sich, die Verzweiflung nicht zu zeigen, die in ihm aufstieg und ihn fast zu ersticken drohte. «Harry Barlay wird uns helfen. Oder Gustav Brumbach. Du wirst sehen, ich kann wieder als Dompteur arbeiten.»
«Ich will aber nicht mit einem Zirkus durchs Land ziehen. Das weißt du. Die Kinder brauchen ein festes Zuhause. Und außerdem kann ich meine Mutter nicht alleinlassen.» Anita Gericke liefen die Tränen über die Wangen.
Holger Gericke nahm seine Frau in die Arme. Sie lehnte sich an seine Brust, und er streichelte ihren Rücken. «Dann suche ich mir was anderes. Ich habe ja Arbeit für den Übergang. Es wird schon, du wirst sehen, es wird schon. Und wenn alle Stricke reißen … Ich habe noch andere Kontakte in der Zirkuswelt, die ich nutzen kann.»
Über den Kopf seiner Frau hinweg sah er seinen Sohn Thomas an. Der Siebzehnjährige schaute grimmig, seine Kiefer mahlten. Gericke begriff, dass sein Sohn den Kontakten des Vaters nicht mehr traute. Wenn er es recht bedachte, ging es ihm selbst nicht anders. Harry Barlay, Gustav Brumbach, Harry Michel – alles unsichere Kandidaten. Er wusste ja noch nicht einmal, wo Barlay und Brumbach sich derzeit aufhielten. Aber immerhin waren es Möglichkeiten, etwas, an dem man ansetzen konnte. Und das war immer noch besser als nichts.
Sie hörten, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Sofort keimte wieder Hoffnung in Gericke. «Siehst du, da ist er. Jetzt wird sich alles aufklären.»
Ein älterer Mann erschien im Türrahmen und fuhr sie wütend an: «Wer sind Sie? Was machen Sie in meiner Wohnung? Wenn Sie nicht sofort hier verschwinden, rufe ich die Polizei!»
Montagnachmittag, 12. Dezember 1960
AN DEN SONNABENDEN reichten die Parkplätze rund um die Arminiushalle kaum aus, um den Ansturm von Kaufwilligen zu bewältigen. Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, war das auch an diesem Montagnachmittag der Fall. Der Fund des Toten und die daraus resultierende Sperrung der Halle hatten sich trotz der Meldungen im Radio noch nicht überall herumgesprochen.
Normalerweise luden die Menschen im Wirtschaftswunderland nach oft kilometerlangen Anfahrten die Kofferräume ihrer Autos voll mit Porree und Apfelsinen, Broten und Heringen oder einem saftigen Eisbein. So, als gäbe es bald die nächste Hungersnot. Die Berlin-Krise verunsicherte viele. Karpfen und Gänse hatten Hochkonjunktur, und nach dem Vorbild der Amerikaner musste auch der eine oder andere Truthahn sein Leben lassen. Wer konnte schon sagen, wie die Welt nächstes Jahr zu Weihnachten aussah.
In der Arminiushalle blieben selten Kundenwünsche offen. Neben makellosen Importtomaten für 2 Mark das Pfund gab es in der nächsten Gasse welche für 80 Pfennige, wenn auch nicht ganz so ansehnliche. Bei der Schinkenwurst ging das Viertel für 1,65 Mark über die Theke, bei der Thüringer Speckwurst hingegen schon für 35 Pfennige. Auch aparte Sachen gab es im Angebot, zum Beispiel Parfum aus dem Ballon, 50 Milliliter «Chypre» für 1 Mark. Ein beliebtes Weihnachtsgeschenk waren Handtaschen oder allerlei asiatischer Schnickschnack wie lange Kratzehändchen, mit denen man angeblich jede Stelle auf dem Rücken erreichen konnte.
Doch an diesem Tag war einkaufen nicht möglich. Entsprechend groß war die Empörung der ausgesperrten Kunden. Manche hatten schließlich lange Fahrten hinter sich. Die Männer der Schutzpolizei blieben jedoch stoisch. Niemand durfte durch, auch diejenigen nicht, die sich in der Halle in die medizinischen Bäder oder in die Reinigungsbäder begeben wollten. Ein Ehepaar mit Kindern ließ sich partout nicht abweisen. Der Vater protestierte lauthals, war kurz davor zu randalieren. Die Familie hatte ein Nachtquartier gebucht. Für 10 Mark konnte man in den Büroräumen unterkommen, die in der städtisch verwalteten Halle nicht mehr benötigt wurden, fließend heißes und kaltes Wasser inklusive. Beinahe hätte es eine Schlägerei gegeben.
Das Schimpfen und Fluchen der Menschen, die vergeblich nach Moabit gefahren waren, drang nicht bis zu Kriminaloberkommissar Otto Kappe vor. Er konzentrierte sich auf die Befragung der Hallenbeschicker. Polizeihauptwachtmeister Schulz und seine Leute hatten es tatsächlich geschafft, fast alle aufzutreiben. Die anderen, die sich nicht hatten blicken lassen, würden von ihnen zu Hause aufgesucht werden.
In Anbetracht des Aufwands ließ die Informationsausbeute sehr zu wünschen übrig. Den Aussagen nach war die Halle das reinste Paradies, ein Hort der Harmonie. Es hatte angeblich keinerlei Streit gegeben, auch nicht zwischen einem Händler und einem Clown oder zumindest einem Menschen, der mit dem Zirkusmilieu zu tun hatte. Alles Friede, Freude, Eierkuchen. Weit und breit kein Mordmotiv. Nach und nach führte man die Händler zu dem Toten, aber keiner erkannte ihn. Angeblich. In solchen Fällen konnte man sich nie sicher sein, ob nicht doch jemand log – oder sich unter den Befragten sogar der Täter befand. Auch wenn sein in vielen Jahren entwickelter kriminalistischer Instinkt ihm sagte, dass dem nicht so war, konnte Otto Kappe derzeit nichts ausschließen. Soviel er auch fragte, nachhakte, bohrte – das Ergebnis blieb gleich null. Ein ums andere Mal hörte er sich Namen, Wohnort und Familienstand