Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain. Herbert SeiboldЧитать онлайн книгу.
zu schlagen?
Er versuchte sich krampfhaft zu konzentrieren und begrüßte den Arzt mit Handschlag. Im gleichen Augenblick dämmerte ihm der Grund der Panik. Sein Besucher trug OP-Handschuhe. „Was soll das denn?“
„Oh, Herr Direktor, ich Ekzem habe an Hand – ich mich schämen.“
Muniel versuchte seine Panik zu überwinden und wollte jetzt Zeit gewinnen, bis der Oberarzt kam. Betont langsam schenkte er dem Besucher gegen seine Gewohnheit einen Kaffee ein. „Wenigstens zum Kaffeetrinken ziehen Sie die Handschuhe aus! Ansonsten trinke ich nicht mit Ihnen“, sprach er schon mit schwerer Zunge, was der Besucher befriedigt registrierte. Die bärenhafte Gestalt war mit sich und dem Fortschritt ihrer Aktion sehr zufrieden.
„Sehr gern, Herr Direktor“, sagte der Besucher und zog den rechten Handschuh aus. In diesem Augenblick dachte er nicht daran, dass er dadurch Spuren hinterlassen könnte. Er war aufgeregt.
Kurt Muniel versuchte sich mühsam zu konzentrieren und holte jetzt – schon leicht schwankend – die Kaffeekanne vom Büffet, wobei er einen Spritzer auf den Boden schüttete und dem Besucher dreißig Sekunden lang den Rücken zudrehte. Zur Verstärkung der Dosis konnte so der Mann noch einmal Tropfen ins Glas schütten. Die Gläser hatte die Sekretärin immer an den Platz gestellt, für alle Fälle.
„Warum sind Sie bei mir aufgekreuzt, ohne sich anzumelden?“
„Oh, Herr Direktor, ich sehr spontaner Mensch und sehr flexibel.“ Der harte russische Akzent war nicht zu überhören. „Darf ich melden Ihnen, warum Überraschungsbesuch? Ich bin Arzt aus der Ukraine, ursprünglich Donezk, komme aber jetzt von berühmter Klinik für Organverpflanzung aus Moskau. Chef in Donezk halten großes Stück auf mich. Deshalb geschickt mich nach Moskau! Wir können machen jetzt Kooperation und ich bringe mit Oberarzt von dort und wir stellen hier im Klinikum Buchenhain um auf Nierentransplantation. Habe schon geredet mit reichen Weißrussen und Ukrainern, die alle gern hierher als Patienten kommen würden“, schwadronierte der unheimliche Besucher drauflos.
„Heute habe ich wirklich keine Zeit und auch keine Lust, mir noch dazu Ihr schlechtes Deutsch anzuhören. Was soll denn überhaupt dieser ganze Überfall? Unverschämtheit!“ Muniel wunderte sich sehr, dass ihm das Sprechen so schwerfiel, als hätte er zu viel getrunken. Schimpfen fiel ihm noch am leichtesten. „Gleich kommt der nächste Besucher. Haben Sie vielleicht etwas mit meiner Müdigkeit zu tun?“
„Es tut mir leid, wenn ich ermüde Sie, Herr Direktor“, stammelte der unheimliche Besucher scheinbar zerknirscht.
Muniel schimpfte weiter: „Außerdem habe ich Zweifel, dass Ärzte aus Osteuropa erfolgreiche und gute Ärzte sind. Die Erfahrung mit einem Ukrainer – ich glaube, Doktor Cerebellinowitch hieß der – war nicht sehr vielversprechend. Dieser Herr sah Ihnen übrigens ähnlich. Wissen Sie, was der Name übersetzt heißt? Kleinhirnchen, haha – was ja alles sagt.“ Trotz der Benommenheit konnte er seinen bösen Sadismus nicht bremsen.
„Oh, Kleinhirnchen ist gut, sehr gut sogar – Kleinhirnchen macht Hände vom Chirurg flink und geschickt, wenn operiert, braucht nicht viel Großhirn. Großhirn bremsen nur dabei“, konterte der dem früheren Doktor Kleinhirnchen ähnlich sehende Arzt erstaunlich selbstbewusst.
Der Geschäftsführer trank einen großen Schluck Kaffee. Muniels Geduldsfaden war schon längst gerissen. Er war sich allerdings unschlüssig, ob er den Besucher rausschmeißen oder das Gespräch bis zum Auftauchen des Oberarztes hinauszögern sollte. Er brüllte los: „So, jetzt raus! Es reicht jetzt. Lassen Sie sich einen Termin geben.“
Der Besucher dachte aber gar nicht daran, zu gehen. Doktor Muniel starrte ihn unentschlossen an. Äußerlich glich der wirklich dem ehemaligen Assistenten – oder war der es selber? Sein Herz raste weiter und er geriet immer mehr in Panik. Er war nicht mehr Herr über seinen Körper und sein Bewusstsein. Die blauen Augen des unheimlichen Besuchers blickten träge und gleichgültig unter den buschigen Augenbrauen hervor. Irgendwie wirkte er auf den ersten Blick naiv tapsig wie ein sibirischer Bär, aber nicht gefährlich. Muniel dachte nicht wirklich, dass er seinen Mörder vor sich haben könnte. Immerhin hörte er noch, wenn auch undeutlich, wie der Besucher sagte: „Oh, ich brauchen nicht viele Zeit für mich, ich flinke Hände – Sie werden wundern sich oder auch nicht mehr!“
Doch den letzten Satz hörte der Geschäftsführer tatsächlich schon nicht mehr richtig. Er sah ein fratzenhaftes Gesicht vor sich mit vielen Farben, die sich wie ein Kaleidoskop des Schreckens bewegten, bevor alles weiß wurde und sein Bewusstsein schwand. Sein Kopf sank nach vorn.
Zuvor hatte der Arzt die Unterarme freigemacht und zwanzig Milliliter einer klaren Flüssigkeit in die Vene injiziert. Die verwendete Kanüle war kleinkalibrig, was den Injektionsvorgang zwar leicht verzögerte, aber den Einstich praktisch unsichtbar machte. Die Nadel entfernte er, ohne die Einstichstelle abzudrücken. Es trat nur ein Tropfen dunkles Blut heraus, den er mit dem Handschuh abwischte. Mit dem Ärmel wischte er kurz an seiner Tasse, drehte sich auf dem Absatz um, lief die Treppe herunter und verschwand in den Keller. Es hatte den Anschein, als kenne der Fremde sich im Verwaltungsschlösschen aus.
Er schaffte es in weniger als einer Minute, das Gebäude unbemerkt zu verlassen. Doktor Unheimlich war natürlich nicht so dumm, den Haupteingang zu benutzen, sondern verschwand durch den Lieferanteneingang im Untergeschoss in einem angrenzenden Waldstück. Wie durch ein Wunder war der Hausmeister nicht unterwegs gewesen. Vom Klinikgebäude aus konnte dieser Eingang nicht eingesehen werden. In der Umgebung des Schlösschens standen schon seit hundert Jahren neben knorrigen Eichen breitstämmige Buchen und dichtes Unterholz. Ein Specht klopfte beim Abgang des flüchtenden Arztes – es hörte sich an wie ein Trommelwirbel. Fast wie im Triumph schlich er in den Wald und verschwand zu seinem Auto, einem grauer Skoda, der ein paar Straßen unterhalb der Schlossklinik stand.
Reanimation zu neuem Leben?
Oberarzt von Risseck wunderte sich, dass sein Klopfen nicht gehört wurde, die Sekretärin hatte ja – das wusste er von ihrem Telefonat – schon Feierabend. Leicht beunruhigt machte er die Tür auf und erschrak sofort. Er sah einen nach vorn gesunkenen Muniel mit dem Gesicht auf der Tischplatte und schrie entsetzt auf: „Oh Gott, Doktor Muniel – was ist denn los?“
Er legte den Geschäftsführer mit Schnappatmung auf den Boden und begann automatisch mit einer Herzmassage, weil an der Halsschlagader kein Puls mehr zu spüren war – oder waren da noch ganz schwach langsame Pulsschläge? Über eine Fernsprechanlage wählte er die eingespeicherte Notrufnummer, hatte so die Hände für die Herzmassage frei und rief abgehackt: „Das Reanimationsteam sofort zum Geschäftsführer ins Büro – Reanimation!“ Das hätte er in seinen schlimmsten Fantasien nicht gedacht, dass er einmal den kaltschnäuzigen Geschäftsführer wiederbeleben musste. Da wurde es ihm doch etwas anders.
Sonst war er bei dieser Arbeit cool – zumindest nach außen sah man keine Emotion. Bei Bedarf ein menschlicher Reanimationsautomat. Nur so war das Geschäft auszuhalten – er hatte auch schon mehr als hundert Reanimationen hinter sich. „Welch ein Glück, dass der OA der Intensivstation den Geschäftsführer als Erster fand“, sollten nachher die Mitarbeiter kommentieren!
Es gab allerdings, wie sich später herausstellte, zum Beispiel den Pfleger Mario oder seinen Freund Odekoke aus Kamerun, die über die Wiederbelebung, wie gemunkelt wurde, gar nicht glücklich waren. Doch selbst diese etwas anderen Pfleger schätzten den Oberarzt.
Herr Doktor Justus von Risseck war ein ernster, schöner Mann von fünfunddreißig Jahren, der nicht viele Worte verlor. In seine hohe Stirn fiel eine kecke blonde Locke, was ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Sein eckiges und markantes Kinn zeugte von Willenskraft, seine Stimme war tief, leise und angenehm. Die Schwestern auf den Stationen schwärmten von ihm und flirteten wie wild mit ihm, was ihn aber kalt ließ. Er hatte seine heiße Liebe mit zwanzig gefunden, geheiratet und war immer noch in seine Frau verliebt. Zwei Kinder hatten sie und die waren auch der Hauptgrund dafür, dass er seit acht Jahren im Buchenhain blieb, weil sie sich im Kindergarten und dann in der Schule wohlfühlten. Gemeinsam träumten sie von einem Haus mit hohen, hellen Zimmern,