Lass los!. Hanna BackhausЧитать онлайн книгу.
nehmen Sie das letzte Blättchen und schreiben darauf, was das Drittwichtigste in Ihrem Leben ist. Auch diesen falten Sie zusammen und schreiben „Nr. 3“ darauf.
Nun nehmen Sie die gefalteten Zettel fest in die Hand. Drei wichtige Dinge, die eine zentrale Rolle für das Glück Ihres Lebens spielen. Freuen Sie sich daran, und werden Sie sich bewusst, welche Bedeutung sie für Ihre Zufriedenheit haben. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie kämen in eine Lebenssituation, in der Sie eines dieser für Sie so wichtigen Dinge loslassen müssten. Welches von den dreien legen Sie zuerst aus der Hand?
Werden Sie sich bewusst, warum Sie gerade dieses zuerst loslassen! Stellen Sie sich vor, Ihr Leben geht weiter, Sie kommen in eine andere Lebenssituation und müssen auch noch ein Zweites weglegen. Und wie das Leben so spielt, müssen Sie am Ende auch noch das Letzte, das Ihnen so wichtig geworden ist, loslassen. Wenn Sie nun in sich hineinhorchen, welche Empfindungen haben Sie?
Ein kleines Mädchen kommt weinend zu seiner Mutter. Ihre Hand steckt in einem Krug. Die Mutter zieht, das Kind schreit. Der Vater kommt, und auch er versucht die Tochter zu befreien. Es tut noch mehr weh, und sie schreit noch verzweifelter.
Der Vater sagt: „So, jetzt halt doch mal still, mach deine Finger ganz gerade, und leg den Daumen an die Handinnenfläche!“ Das Kind hört sofort auf zu weinen und sagt: „Das geht nicht, dann fällt der Euro wieder runter!“
Benehmen wir uns nicht auch manchmal wie dieses Kind?
Wir tun uns selbst weh, nur um unsere Vorstellungen vom eigenen Glück nicht loslassen zu müssen. Wir halten fest um jeden Preis, auch wenn es nur ein Euro ist. Warum tun wir das?
Von Geburt an wollen wir festhalten.
Festhalten, klammern, das ist ein angeborener Reflex.
Wenn Sie die Handinnenflächen eines Babys mit dem Finger berühren, wird sich die Babyhand sofort um diesen Finger schließen. Und zwar so fest, dass Sie das Baby mit seinem ganzen Gewicht daran hochziehen können.
Dieser Reflex zum Klammern ist in unsere menschliche Natur gelegt.
Für das Kleinkind ist dieses enge Angebundensein an einen anderen Menschen lebensnotwendig. Denn ohne die enge Bindung an die Mutter kann ein Baby nicht existieren.
Gerade diese enge Bindung ist es, die einen Menschen später zum Loslassen fähig macht, denn in diesem Gehaltensein wächst das Urvertrauen. Ohne dieses in früher Kindheit gewachsene Urvertrauen ist Loslassen schwerer, weil Angst vor dem Unbekannten zum Festhalten am Gewohnten führt. Das heißt, je weniger Urvertrauen ein Kind entwickeln kann, umso stärker wird dieses sich als Erwachsener an Dinge klammern, die Sicherheit zu geben scheinen. Dahinter steckt die früh erfahrene Angst, nicht sicher gehalten worden zu sein.
Eine große Gefahr verbirgt sich in der Familienpolitik unserer Zeit. Ich habe den Eindruck, da sollen arbeitsgerechte Familien statt familiengerechte Arbeitsplätze geschaffen werden. Um ein gesundes Urvertrauen in Menschen und das Leben überhaupt entwickeln zu können, braucht ein Kind zumindest die ersten drei Jahre die Nähe der Mutter bzw. einer festen Bezugsperson.
Aber bereits in frühester Kindheit beginnt auch das Loslösen. Zuerst während der Geburt, bei der das Kind den vertrauten Mutterschoß verlässt. Ein weiterer wichtiger Schritt ist das Laufenlernen, um im wahrsten Sinn des Wortes ins eigene Leben hineinzugehen, zur eigenständigen Persönlichkeit zu werden. Dafür müssen wir das bequeme Getragenwerden hinter uns lassen.
Je eigenwilliger wir an etwas festhalten, umso mehr erstarren wir innerlich.
Und so ist jede abgeschlossene Entwicklungsphase des Menschen verbunden mit einer Ablösung. Ohne Lösen kein Wachstum. Loslassen gehört von frühster Kindheit an zu unserem Leben. Wir wachsen, indem wir uns vom Alten, vom Gewordenen lösen. Phase um Phase. Wir sind sonst immer weniger in der Lage, uns auf neue Situationen und Lebensumstände einzustellen. Die Flexibilität, die ein Mensch zum Überleben braucht, ist eingeschränkt.
Besonders Menschen in der Altenpflege wissen, dass der Umgang mit einem störrischen Menschen schwierig ist. Ein so erstarrter Mensch hat es schwer mit sich selbst, mit anderen, mit dem Leben überhaupt.
Haben Sie solche Menschen vor Ihrem inneren Auge, die statisch geworden sind?
Nur wer die Hände zum Loslassen öffnet, kann auch Neues in die Hand nehmen.
Dieses Festgefahrensein ist das Resultat eines Lebens, in dem ein Mensch sich aus übergroßer Angst geweigert hat, das Loslassen einzuüben. Wer nicht loslässt, kann nichts lernen, und wer nichts lernt, erlebt kein Wachstum. Und so widersinnig es klingt:
Wer loslassen kann, hat ein erfülltes Leben. Erfüllt mit Gelassenheit. Da kann kommen, was will, er ist bereit, zu lassen und anzunehmen.
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