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Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl. Christopher GermerЧитать онлайн книгу.

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl - Christopher Germer


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versicherte ihr, dass sie recht hatte: Was ich auch vorschlagen würde, es würde nicht funktionieren. Nicht, weil sie ein hoffnungsloser Fall war, nein, keineswegs, sondern, weil alle gut gemeinten Strategien zwangsläufig fehlschlagen müssen. Das liegt weder an den Techniken, noch an der Person, die sich besser fühlen möchte. Das Problem liegt in unserer Motivation und einer falschen Vorstellung von der Funktionsweise unseres Verstandes. Wie Michelle durch ihren jahrelangen Kampf nur zu gut wusste, führt vieles, was wir tun, um uns nicht schlecht zu fühlen, dazu, dass wir uns noch schlechter fühlen. Es ist wie bei jenem Gedankenexperiment: „Versuche, nicht an einen rosafarbenen Elefanten zu denken (einen sehr großen, sehr rosafarbenen).“ Hat eine Idee oder Vorstellung Eingang in unser Denken gefunden, wird sie jedes Mal verstärkt, wenn wir versuchen, nicht daran zu denken. Sigmund Freud gelangte zu dem Schluss, dass das Unbewusste „keine Verneinung kennt“. Alles, womit wir unser Problem also bombardieren – Entspannungstechniken, Gedankenkontrolle, positive Affirmationen – muss letztendlich enttäuschen, und uns bleibt nichts anderes übrig, als nach einer anderen Lösung zu suchen, um uns besser zu fühlen.

      Während wir über diese Dinge sprachen, begann Michelle leise zu weinen. Ich wusste nicht, ob sie nun noch entmutigter war oder einfach erkannte, dass wir nur ausgesprochen hatten, was sie all die Jahre erlebt hatte. Sie erzählte mir, dass nicht einmal ihre Gebete erhört worden waren. Wir sprachen über die zwei Arten von Gebeten: diejenigen, mit denen wir Gott bitten, unangenehme Dinge von uns zu nehmen, und die, bei denen wir uns hingeben: „Dein Wille geschehe.“ Michelle sagte, es sei ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Probleme in Gottes Hand zu legen, das war einfach nicht ihre Art.

      Nach und nach arbeiteten wir heraus, was Michelle tatsächlich gegen ihre Ängste und ihr Erröten helfen könnte – weder Tiefenatmung, noch „in den Arm zwicken“, weder das Trinken von kaltem Wasser, noch eine Maske der Unerschütterlichkeit. Da Michelle nicht zu jenen Menschen gehört, die irgendwann aufgeben, musste sie einen völlig neuen Weg finden. Sie erkannte, dass ihre Angst und Anspannung nachließen, je mehr sie sie akzeptierte, und dass sie zunahmen, je weniger sie sie annahm. Daher schien es ihr nur vernünftig, sich in Zukunft darum zu bemühen, ihre Angst sowie die Tatsache, dass sie einfach eine ängstliche Person war, zu akzeptieren. Der Erfolg unserer Therapie war also nicht daran zu messen, wie häufig oder selten sie errötete, sondern in welchem Maße sie ihr Erröten akzeptieren konnte. Das war eine völlig neue Vorstellung für Michelle. Sie verließ die erste Therapiestunde begeistert, wenn auch ein wenig verblüfft.

      In der folgenden Woche teilte sie mir per E-Mail glücklich mit, dass „es funktioniert“. Da wir nicht über irgendwelche neuen Techniken gesprochen hatten, war ich nicht sicher, was Michelle damit meinte. Später erzählte sie mir, dass sie sich angewöhnt hatte, zu sich selbst zu sagen „Ich bin bloß ängstlich, ich bin bloß ängstlich“, wann immer sie merkte, dass sie angespannt war. Das Benennen ihrer Angst schien sie vom Erröten ihres Gesichtes abzulenken, so dass sie beispielsweise in der Lage war, in der Kantine kurz mit Kollegen zu plaudern, ohne dass etwas passierte. Sie war erleichtert, dass sie sich nun wie „eine ängstliche Person beim Mittagessen“ fühlte und nicht wie eine „schwache, hypersensible, lächerliche Person, die nicht weiß, wovon sie redet.“ Ich war erstaunt, dass Michelle das Prinzip „Akzeptanz“ so rasch verinnerlicht und eine alltagstaugliche Technik entwickelt hatte.

      Doch bei unserem nächsten Treffen wirkte sie wieder sehr niedergeschlagen. Ihre Vorstöße in der Kantine waren einmal mehr zu einem Kampf gegen das Erröten geworden, und ihr ursprünglicher Wunsch, „nicht mehr ängstlich zu wirken“, trat wieder in den Vordergrund. Das „Akzeptieren“ funktionierte zwar für Michelle, aber sie bemühte sich nicht mehr darum, eine echte innere Haltung des Annehmens zu entwickeln. Ihr Irrtum bestand darin, dass sie glaubte, eine schlaue Lösung gefunden zu haben, um ihr Problem zu umgehen.

      Doch wir können uns nicht selbst „austricksen“. Ein Teil von Michelle sagte: „Ich praktiziere Akzeptanz, um die Angst zu verringern.“ Aber das hat eben nichts mit echtem Annehmen zu tun. In der modernen Psychologie bedeutet Akzeptanz, dass wir alles, was in jedem beliebigen Augenblick in uns hochkommt, einfach so annehmen, wie es ist. Manchmal ist es ein angenehmes Gefühl, manchmal ein unangenehmes. Natürlich wollen wir die angenehmen Gefühle festhalten und die unangenehmen anhalten, aber mit dieser Absicht funktioniert die Sache nicht. Die einzig richtige Antwort auf unsere Probleme ist, sie zunächst einmal ganz und gar zu haben, egal, worum es sich dabei handelt. Michelle hatte gehofft, diesen Teil überspringen zu können.

      Die hedonistische Tretmühle

      Im Jahre 1971 schrieben Philip Brickman und Donald Campbell, dass wir uns auf der Suche nach dem Glück in einer hedonistischen Tretmühle drehen und vergeblich versuchen, Erfüllung zu finden, indem wir immer nach dem streben, was wir gerade nicht haben, was aber hinter der nächsten Ecke auf uns zu warten scheint: eine bessere Beziehung, ein leichterer Job, ein schöneres Auto. Das Problem ist nur, dass wir uns sehr schnell an alles Neue gewöhnen. Wie lange haben Sie Freude an Ihrem schönen neuen Auto, bis Sie daran denken, Ihre Wohnung zu renovieren? Diverse Studien zeigen, dass die meisten Lottogewinner letztendlich nicht glücklicher sind als Nichtgewinner, und dass Querschnittgelähmte gewöhnlich dasselbe Zufriedenheitsniveau erreichen wie Menschen, die laufen können. Was auch geschieht – wir passen uns an gute und schlechte Lebensbedingungen an. Diese allgemeine Anpassungstheorie wird seit Jahrzehnten durch empirische Studien gestützt. (Über einige neue Aspekte dieses Themas erfahren Sie mehr in Kapitel 5.)

      Drehen wir uns allerdings zu lange in der hedonistischen Tretmühle, können Erschöpfung und Krankheit die Folge sein. In seinem höchst unterhaltsamen und informativen Buch Warum Zebras keine Migräne kriegen über die Ursachen und Folgen von Stress beschreibt Robert Sapolsky die perfekt angepassten Reaktionsmuster von Tieren auf physische Krisen und Gefahrensituationen. Denken Sie beispielsweise an ein Zebra, das vor einem Löwen flieht, der es in Stücke reißen will. Ist die Gefahr vorüber, beginnt das Zebra sofort wieder friedlich zu grasen. Und was tun die Menschen? Wir wittern hinter jeder Ecke Gefahren. Sapolsky fragt: „Wie viele Flusspferde machen sich Sorgen darüber, ob ihre Rentenversicherung noch solange existieren wird wie sie selbst oder was sie bei einer ersten Verabredung sagen sollen?“ Unser Körper reagiert auf psychische Bedrohung genauso wie auf physische Gefahren und ein Gefühl permanenter Bedrohung erhöht unseren allgemeinen Stresspegel und damit das Risiko für Herzerkrankungen, Immunschwäche, Depressionen, Kolitis, chronische Schmerzen, Gedächtnisschwäche, sexuelle Probleme und viele andere.

      Auf welche Weise psychischer Stress zur Entstehung von körperlichen Erkrankungen beiträgt, ist noch nicht völlig geklärt, vorläufige Forschungsergebnisse weisen aber darauf hin, dass dies mit unseren Telomeren zusammenhängen könnte: den DNA-Protein-Komplexen an den Chromosomenenden. Zellen altern, das heißt, sie hören auf sich zu teilen, wenn sie ihre telomerische DNA verlieren. Es hat sich gezeigt, dass sich die Telomere im Immunsystem durch Stress verringern und dass eine geringere Anzahl von Immunzellen Krankheiten begünstigen und das Leben verkürzen kann.

      Die Geschichte hat ein Happy End, das sich allmählich im Laufe von zwei Jahren manifestierte. Michelle fand heraus, wie sie in Einklang mit ihrem sensiblen Nervensystem leben konnte. Rückfälle stellten sich regelmäßig ein, wenn sie versuchte, nicht zu erröten, aber sie errötete kaum noch, wenn sie bereit war, das Erröten zuzulassen. Als sie damit Frieden geschlossen hatte, stellte sie fest, dass sie dieselben Prinzipien auch auf andere Stresssymptome anwenden konnte, die im Alltag unweigerlich auftraten – Spannungsgefühle im Brustkorb, Kopfschmerzen, Herzklopfen –, so dass ihr Leben um vieles leichter wurde.

      Ich möchte mit diesem Buch aufzeigen, wie wir profitieren können, wenn wir uns unserem emotionalen Schmerz zuwenden. Das ist ein dicker Brocken und jeder vernünftige Mensch würde wahrscheinlich zuerst einmal fragen: „Warum um Himmels willen sollte ich das tun?“ In diesem Kapitel erfahren Sie, wieso es oft die beste Lösung ist. Der Rest des Buches zeigt Ihnen, wie Sie diese große Aufgabe meistern können. Als Erstes werden Sie lernen, Dinge, die Ihnen Probleme bereiten, achtsam wahrzunehmen. Dann lernen Sie, gut zu sich selbst zu sein – besonders, wenn Sie sich sehr schlecht fühlen. Diese Verbindung aus Achtsamkeit und Selbstmitgefühl kann sogar die schlimmsten Zeiten Ihres Lebens transformieren.


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