Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl. Christopher GermerЧитать онлайн книгу.
Projektion überträgt man die eigenen inakzeptablen Gefühle auf einen anderen Menschen, um sich mit sich selbst besser zu fühlen: „Er ist ein Rassist“ oder „Sie ist nur eifersüchtig.“
Verteidigungsmechanismen sind ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung des emotionalen Gleichgewichts, weshalb wir ihnen wohl oder übel eine Berechtigung zugestehen müssen. So kann es beispielsweise klug sein, vor der Affäre des Partners die Augen zu verschließen (Verleugnung), bis man die Kraft hat, sich damit auseinanderzusetzen. Es nützt niemandem, wenn wir uns von unseren Gefühlen überwältigen lassen und nicht mehr fähig sind, im Alltag zu funktionieren. Außerdem können manche vorübergehenden emotional schmerzhaften Zustände durchaus erfolgreich ausgeblendet werden – wenn sie nie zurückkehren, umso besser. Unsere psychischen Verteidigungsmechanismen sollen unser Leben aber nicht beherrschen oder unnötig kompliziert machen.
Auf die hedonistische Tretmühle zu steigen, um Angenehmes zu erleben und Schmerz zu vermeiden, kann manchmal sogar positiv sein. Wie können Sie denn je glücklich sein, wenn Sie nicht tun, was Ihnen Freude macht? Wer, wenn nicht Sie, wird kurz- oder langfristig Ihre Bedürfnisse befriedigen oder kann überhaupt wissen, was Sie brauchen, um glücklich zu sein? Für die meisten Erwachsenen sind jene Zeiten, da andere ihre Bedürfnisse besser kannten als sie selbst, lange vorbei. Wir müssen die Verantwortung für unsere innere Zufriedenheit übernehmen, und alles, was uns Freude macht, weist uns den Weg. Es ist jedoch zu hoffen, dass wir uns für langfristige Freuden entscheiden, beispielsweise die Freude an einem gesunden Körper, an geistiger Bereicherung und die Freude, anderen etwas Gutes zu tun.
Entscheidend ist, dass wir erkennen, wann unsere instinktiven Gewohnheiten beim Streben nach Vergnügen und Schmerzvermeidung uns mehr Probleme einbringen, als sie wert sind. Wenn wir uns solchen Aktivitäten hingeben, lässt der Stress nicht lange auf sich warten. Wir leiden, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, wenn wir verlieren, was wir haben und wenn wir bekommen, was wir nicht wollten. Dann ist es hilfreich, die Dinge so anzunehmen und sehen zu können, wie sie sind.
Die Phasen des Annehmens
Die innere Hinwendung zum Schmerz ist ein Prozess, der in mehreren Phasen abläuft. Durch das Leiden wird unser Widerstand allmählich aufgeweicht. Nach anfänglicher heftiger Abwehr treten wir in diesen Prozess ein, indem wir uns dem Problem mit einer gewissen Neugier nähern, und gelangen, wenn alles gut geht, schließlich zu einer vollen Annahme dessen, was in unserem Leben passiert. Dieser Prozess verläuft normalerweise langsam und natürlich. Es ist unsinnig, eine Phase überspringen zu wollen, solange wir uns in unserem jetzigen Zustand nicht stabil fühlen. Die einzelnen Phasen sind:
1. Abwehr – Widerstand, Vermeidung, Grübelei
2. Neugier – man wendet sich dem Problem oder Ereignis mit Interesse zu
3. Toleranz – man erträgt den Schmerz
4. Zulassen – man lässt die Gefühle kommen und gehen
5. Anfreunden – man nimmt die Dinge an, erkennt den verborgenen Wert
Abwehr ist stets unsere erste, instinktive Reaktion auf unangenehme oder schmerzliche Gefühle. Wir wenden beispielsweise den Blick ab, wenn wir etwas Unangenehmes sehen. Abwehr kann auch zu innerer Verstrickung oder Grübelei führen, beispielsweise wenn wir ständig darüber nachdenken, wie wir das Gefühl loswerden können. Wenn die Abwehr nicht funktioniert, treten wir nach einer Weile in die 2. Phase ein: Neugier. „Was für ein Gefühl ist das eigentlich?“ „Wann tritt es auf?“ „Was bedeutet es?“ Wenn wir dann wissen, womit wir es zu tun haben, und der Schmerz anhält, treten wir vielleicht in die 3. Phase ein: Toleranz. Toleranz bedeutet, dass wir den emotionalen Schmerz „ertragen“, ihm aber noch Widerstand leisten und wünschen, er möge vergehen. Wenn unser Widerstand aufweicht, beginnt die 4. Phase: Zulassen. Wir lassen die unangenehmen oder schwierigen Gefühle einfach kommen und gehen. Und irgendwann, nach einer Zeit der Anpassung und Verinnerlichung, befinden wir uns vielleicht in der Phase des Anfreundens, in der wir tatsächlich den verborgenen Sinn oder Wert in unserer Tragödie erkennen. Die Geschichte von Brenda, einer lieben Freundin, mag verdeutlichen, was es bedeutet, diese Phasen zu durchleben.
Brenda und ihr Mann Doug hatten zwei Kinder. Ihr Sohn Zach, der drei Jahre jünger war als seine Schwester, hatte einen angeborenen Herzfehler. Wenn Brendas Familie weite Reisen nach Australien oder Hawaii unternahm, hatte Zach manchmal einen Herzanfall. Trotz seiner Herzkrankheit und der Medikamente war er ein fröhlicher, lebendiger Junge, aber mit neun Jahren starb er plötzlich im Schlaf. Das war vor 19 Jahren.
1. Phase: Abwehr
Der Verlust eines Kindes ist ein unbeschreiblicher Schmerz. Obwohl Brenda und Doug wussten, dass Zach wahrscheinlich nicht lange leben würde, konnte sie nichts auf diesen Schmerz vorbereiten. Es war ein „emotionaler Tsunami“. Beim Begräbnis war Brendas Nervensystem so überlastet, dass ihr peripheres Sehen nicht mehr funktionierte. Nachdem sie nach jüdischer Sitte die siebentägige Trauerzeit Shiva gehalten hatte, legte sie sich ins Bett, und verließ es nur noch selten, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Brenda fühlte sich unter Menschen wie eine Fremde und beobachtete völlig unbeteiligt, wenn jemand in der Kassenschlange ein Aufhebens machte, weil er seine Lieblingsnudeln nicht hatte finden können. Sie hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen.
2. Phase: Neugier
Irgendwann kam Brenda der Gedanke: „Wenn ich einfach aufgeben würde, könnte ich sterben“. Das erschien zunächst wie eine Erlösung, aber dann kam Panik hoch: „Was ist mit meiner Tochter? Was würde sie tun? Ich kann entweder in meinem Leid versinken oder eine bewusste Entscheidung treffen.“ Brenda wachte allmählich auf und erkannte ihre Situation. Ihr wurde klar: „Sich schlecht fühlen kann auch gefährlich sein.“
3. Phase: Toleranz
Nach zwei Wochen beschloss Brenda, das Bett zu verlassen. „Ich war entschlossen, für meine Tochter zu leben.“ Als Kind hatte sich Brenda um ihre eigene Mutter kümmern müssen. Deshalb wollte sie auf keinen Fall, handlungsunfähig durch ihre Trauer, zu einer Belastung für ihre Tochter werden. „Ich muss als Mutter für sie da sein. Das Leben gehört den Lebenden,“ sagte sie sich. Später erklärte sie mir einmal: „Für andere da zu sein war das Einzige, das mein Leid lindern konnte.“
4. Phase: Zulassen
Brenda beschreibt sich selbst als eher „intellektuellen Typ“, der Probleme durch gründliches Nachdenken zu lösen versucht, nach dem Motto: „Wenn dein Ansatz nicht funktioniert, probiere es mit einem anderen“. Aber die Wucht der Trauer hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Sie und Doug hielten ihren Kummer auf einem erträglichen Level, indem sie Zachs Grab nur zweimal jährlich besuchten und hin und wieder seine Sachen hervorholten und betrachteten. „Wusstest du, dass sein Geruch nach fünf Monaten aus dem Bademantel verschwindet?“ Nach und nach konnten beide mehr Schmerz zulassen, wenn sie bei diesen „Besuchen“ zusammen weinten.
Innerlich hielt Brenda eine liebevolle Beziehung zu Zach aufrecht. Diese Verbindung wollte sie nicht aufgeben, und das war auch gar nicht nötig. Brenda stellte fest, dass sie sich Zach immer dann nahe fühlte, wenn sie traurig war. Aber sie fühlte sich ihm auch nahe, wenn sie eine Welle der Dankbarkeit verspürte – Dankbarkeit dafür, dass sie ihn überhaupt gekannt hatte. Brenda war damals in psychotherapeutischer Behandlung und einmal fragte sie ihren Therapeuten: „Ist es in Ordnung, eine lebendige Beziehung zu einem verstorbenen Menschen zu haben?“, und er erwiderte: „Warum nicht? Schmerz und Dankbarkeit sind Formen der Liebe.“ Brenda verließ sich auf ihre Intuition, um in ihrer Beziehung zu Zach ein gesundes Maß zu finden.
5. Phase: Anfreunden
Als ich Brenda 17 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes begegnete, sagte sie zu mir: „Der Schmerz über Zachs Tod hat mich mit allen Müttern verbunden, die je ein Kind verloren haben.“ Zwei Jahre später nahm sie an einem Meditations-Retreat teil, bei dem der Meditationslehrer die Teilnehmer einlud, „mit ihrem Leid in Kontakt zu treten.“ Brenda hörte eine innere Stimme sagen: „Tu’ es nicht!“ Daraufhin sagte der Lehrer zu ihr: „Wenn du die schwierigen Momente nicht voll und ganz erleben kannst, wirst du wahrscheinlich