Das achtsame Gehirn. Daniel SiegelЧитать онлайн книгу.
sich über einen neuronalen Schaltkreis in unseren Körpern miteinander, der fest verdrahtet ist, um Signale anderer aufzunehmen.
Um die Beziehung des Geistes (des Fließens von Energie und Informationen) zum Gehirn (neuronale Verbindungen und ihr komplexes Feuerverhalten) zu untersuchen, müssen wir uns vor bestimmten vorgefassten Ideen hüten, die unser Verstehen beeinträchtigen und unser Denken beeinflussen könnten. Wir müssen kognitive Achtsamkeit walten lassen – offen für Kontexte sein, neue Wege der Wahrnehmung akzeptieren, subtile Unterschiede zwischen verschiedenen Ideen klar erkennen und neue Kategorien des Denkens in unserem Gewahrsein der Konzepte im jeweiligen Moment schaffen. Hier sehen wir, dass die Vorstellung einer kognitiven Achtsamkeitsdimension uns dabei helfen kann, wie wir denken und wie wir das Lernen angehen, sogar in Bezug auf die reflektive Achtsamkeit.
Die zeitliche Abfolge und der Schauplatz der neuronalen Aktivierung entsprechen der zeitlichen Abfolge und den Eigenschaften geistiger Aktivität. Wenn sich jemand eine Fotografie ansieht, dann kann seine Gehirnaktivität dabei mit einem Kernspintomografen überwacht werden. Es wird eine Aktivierung im hinteren Teil des Gehirns sichtbar sein (normalerweise erhöht sich der Blutfluss während der Aktivierung und ist auf fMRI-Aufnahmen sichtbar oder als elektrische Aktivität auf einem EEG). Das Genaueste, was wir dann sagen können, ist, dass das Feuern von Neuronen am Okzipitallappen mit visueller oder räumlicher Wahrnehmung korreliert.
Warum kann man nicht sagen, dass die neuronale Aktivität die visuelle Wahrnehmung erzeugt habe? Wenn wir solche Kausalzusammenhänge herstellen, dann wird die irrige Idee verstärkt, dass der Geist nur durch das Gehirn erschaffen werde. Wenn wir an dieser Stelle kognitiv achtsam sind, dann müssen wir offen für die Wahrheit sein, nämlich, dass das neuronale Feuern erst durch das Sehen des Bildes ausgelöst worden ist. Der Richtungspfeil weist in beide Richtungen: Der Geist kann tatsächlich das Gehirn nutzen, um sich selbst zu erschaffen.
Ohne kognitive Achtsamkeit würden wir diese birektionale Ausrichtung übersehen. Wenn wir uns zum Beispiel unsere Weiterentwicklung als Spezies ansehen, stellen wir fest, dass unsere Spezies sich in den letzten vierzigtausend Jahren durch kulturelle Evolution verändert hat. Kultur ist der Weg, auf dem Bedeutung zwischen Individuen und über Generationen hinweg in Menschengruppen übertragen wird. Die Veränderungen, die sich in den Mustern dieses Energie- und Informationsflusses im Laufe der Zeit vollziehen, bestimmen den Verlauf der kulturellen Evolution. Wie wir uns als Spezies verändert haben, wird nicht nur von der genetisch vorangetriebenen Evolution unseres Gehirns bestimmt, sondern auch von der mentalen Evolution, die darin besteht, wie wir Energie und Informationen über Generationen kollektiv untereinander weitergeben. Dies ist die Evolution des Geistes und nicht die des Gehirns. Unserer Ansicht nach muss sich der Geist (Energie- und Informationsfluss) die Aktivität des Gehirns zunutze machen, um existieren zu können. Auf diese Weise benutzt der Geist das Gehirn, um sich selbst zu erschaffen.
Diese Perspektive entspricht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand darüber, wie Geist und Gehirn miteinander verbunden sind. Es ist nicht nötig, den Versuch zu unternehmen, die Dimension der einen Realität so zu vereinfachen, dass sie mit der anderen zusammenfällt. Der Geist ist keine „bloße“ Gehirnaktivität, denn ein Energie- und Informationsfluss findet in einem Gehirn innerhalb des Körpers statt, und er geschieht auch innerhalb von Beziehungen. Um uns diese Sichtweise bildlich vorzustellen, können wir sagen, dass der Geist bei dem neuronalen Feuerverhalten im Gehirn „mitfährt“ und dass dieses „Mitfahren“ bidirektionalen, kausalen Einflüssen entspricht. Begriffe wie Mechanismen oder neuronal vermittelt sollen in dem vorliegenden Werk keine Kausalität in eine Richtung implizieren. Neuronale Vorgänge „korrelieren“ vielmehr mit mentalen Aktivitäten oder sind mit ihnen „verbunden“, wobei die eine Komponente die jeweils andere beeinflusst.
Beziehungen unter Menschen beinhalten ebenfalls den Fluss von Energie und Informationen und nutzen so auch dieselben Mechanismen. Diese gegenseitigen Verbindungen zwischen Gehirn, Geist und Beziehungen bilden ein Realitätsdreieck, auf das wir immer wieder zurückkommen werden. So können wir einen in drei Richtungen wirksamen Einfluss dieser drei nicht weiter reduzierbaren Dimensionen spüren.
Beziehungen prägen den Energie- und Informationsfluss – so wie es jetzt gerade durch diese Worte in Ihrem Geist geschieht. Doch die Aktivität des Gehirns prägt auch unmittelbar die Art und Weise, wie der Energie- und Informationsfluss reguliert wird. Jetzt im Moment aktiviert Ihr Gehirn möglicherweise bestimmte Feuergewohnheiten, die Sie davon ablenken, dem Text Aufmerksamkeit zu schenken. Das würde Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, dieses besonderen Moments achtsam gewahr zu sein. Es könnte eine Ablenkung geben, und diese wird die Art und Weise prägen, wie sich der Energie- und Informationsfluss – der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit – in diesem besonderen Moment vollzieht.
Die Aufmerksamkeit gegenüber dem gegenwärtigen Moment, die ein Aspekt des achtsamen Gewahrseins ist, kann durch unsere ständige Kommunikation mit anderen ganz unmittelbar geprägt werden, ebenso wie durch die Aktivitäten in unserem eigenen Gehirn. Einige der größten Herausforderungen beim Präsentsein stellen die hierarchischen Aktivierungsmuster in unserem Gehirn dar, die uns ständig mit ihrem neuronalen Feuern und mentalen Geplapper bombardieren.
Im nächsten Abschnitt werden wir in das Wesen der unmittelbaren Erfahrung und des achtsamen Gewahrseins eintauchen. Wir können alle Vorstellungen über Gehirn, Geist und Beziehungen im Hinterkopf behalten, rücken sie aber erst einmal beiseite, wenn wir uns in die subjektive Realität des Innenlebens vertiefen.
Teil II
Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung
Kapitel 3
Eine Woche in Stille
Ich fliege von Los Angeles nach Boston, um an einem einwöchigen Retreat teilzunehmen, und ich bin aufgeregt. In den nächsten sieben Tagen werde ich zusammen mit einhundert anderen Wissenschaftlern in der Insight Meditation Society in Barre im US-Bundesstaat Massachusetts in Stille sitzen. Diese Zusammenkunft wurde vom Mind and Life Institute finanziert, einer Organisation, die sich der wissenschaftlichen Erforschung von Achtsamkeit und Mitgefühl widmet. Das Treffen ist ein einzigartiges Ereignis. Wann haben je zuvor einhundert Wissenschaftler, von denen sich die meisten auf das Studium des Gehirns spezialisiert haben, eine Woche lang zusammen in Stille gesessen und die „Achtsamkeitsmeditation“ erlernt?
Ich weiß, dass sich durch die Vermittlung von achtsamem Gewahrsein das körperliche und psychische Wohlbefinden von Menschen merklich verbessern kann. Am Mindful Awareness Research Center der UCLA haben wir vor kurzem eine achtwöchige Pilotstudie durchgeführt, die gezeigt hat, dass das Vermitteln meditativer Techniken die Ablenkbarkeit und Impulsivität der Probanden, unter denen sich unter anderem Erwachsene und Jugendliche mit genetischen Erkrankungen wie Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung befanden, entscheidend reduzieren konnte. Dennoch habe ich keine Erfahrung mit Meditation, mein Geist ist immer geschäftig und läuft auf Hochtouren, und ich habe noch nie so lange Zeit schweigend verbracht.
Ich habe einem Freund von dem bevorstehenden Schweigeretreat erzählt, und er meinte, mit anderen Menschen zu sprechen sei für ihn „Lebenselixier“, und sich mit anderen zu verbinden – das Gespräch, der Augenkontakt, die Nähe – sei es, was seinem Leben einen Sinn gäbe. Mir auch, sagte ich. Wie wird es sein, über lange Zeit vollkommen still zu sitzen und sieben Tage lang mit niemandem verbal oder nonverbal (Teil der Vereinbarung) zu kommunizieren? Warum tue ich das? Ich frage mich, ob es zu spät ist, von der ganzen Sache noch zurückzutreten.
Schweigende Wissenschaftler
Ich musste keine größeren Vorbereitungen treffen, außer warme Kleidung und Schuhe für diese Gelegenheit einzupacken, die mich mitten im Winter nach New England verschlagen sollte. Das Beste, was ich tun könne – so wurde mir geraten –, sei, zu Hause alles unter Dach und Fach zu bringen, so dass ich in der Stille des Retreats nicht den Drang verspüren würde, jemanden anzurufen, E-Mails zu schreiben oder welche zu beantworten. Als Psychiater, der sich für das Gehirn und für Beziehungen interessiert, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, was die Sprache verarbeitenden Regionen meiner linken Hemisphäre übernehmen würden, wenn sie sich – voraussichtlich – während der Meditation in Stille übten? Worte sind digitale Informationspakete,