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Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen. Daniel SiegelЧитать онлайн книгу.

Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen - Daniel Siegel


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neuralen Schaltkreis in den präfrontalen Gehirnregionen auftreten. Selbsterkenntnis wird geschaffen durch eine Verbindung der verschiedenen Elemente der Erinnerung, die im gesamten Gehirn gespeichert sind, einem Gemisch von Elementen aus der Vergangenheit, Wahrnehmungen in der Gegenwart und Vorwegnahmen der Zukunft.

      Die interaktive Rückkopplung der Erfahrung bestimmt, wie wir wahrnehmen und wie wir die Zukunft in mentalen Modellen der Welt vorwegnehmen. Das bedeutet, dass wir aktiv unsere eigene Realität konstruieren, während gleichzeitig unsere Erfahrung bestimmt, wie wir zu unserer Sicht der Realität gelangen. Erfahrungen, die unsere körperlichen Empfindungen mit denjenigen integrieren, die wir in Beziehungen mit wichtigen Bezugspersonen haben, können ein wichtiger Baustein des sich entwickelnden Selbst sein. Die Erfahrungen von Helen Keller (1880–1968), die von Geburt an blind und taub war, werden von Paul John Eakin als Beispiel dafür angeführt, wie Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen. Sie illustrieren diesen verbindenden Bestandteil in der Entwicklung: Die Schriften von Helen Keller, so Eakin, sind ein „seltener und möglicherweise einzigartiger Bericht, wie sich zu dem Zeitpunkt, in dem Sprache begriffen wird, das Selbst manifestiert. … Obwohl Keller schon zuvor ein schlichtes Vokabular von Finger-Wörtern, die ihr von ihrer Lehrerin Anne Sullivan in die Hand buchstabiert worden waren, gemeistert hatte, erlangte sie erst als Sullivan eine ihrer Hände unter einen Brunnen hielt und in die andere das Wort Wasser buchstabierte, gleichzeitig ein Verständnis von Sprache und von einem Selbst. Es war wahrhaftig eine intellektuelle und spirituelle Taufe: ‚Ich begriff, dass ›W-a-s-s-e-r‹ dieses wundervoll kühle Etwas bezeichnete, das über meine Hand rann. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele.‘ Ich habe das Ergebnis der Brunnenhaus-Episode schematisch folgendermaßen zusammengefasst. … Von den Grundzügen her stimmt die Keller-Episode mit der Sichtweise des sozialen Konstruktivismus hinsichtlich der Identitätsbildung überein. Mein schematischer Bericht über einen einzigen Augenblick (Selbst/Sprache/Andere) spiegelt die Tatsache wider, dass eine ganze Phase der Entwicklungsgeschichte, die normalerweise über einige Monate hinweg verläuft, im Fall von Keller auf die Dauer eines enthüllenden Augenblicks komprimiert wurde. … Keller betont sowohl die Beziehungsdimension dieser Episode (die entscheidende Rolle der ‚Lehrerin‘) als auch die Erdung der gesamten Erfahrung in ihrem Körper“ (Eakin, S. 66/67).

      Die präfrontalen Bereiche des Gehirns, insbesondere der orbitofrontale Kortex, sind essentiell für die Vermittlung zwischenmenschlicher Kommunikation, Darstellungen des Körpers und autobiografische Bewusstheit. Die Fähigkeit des orbitofrontalen Kortex, unser ganzes Leben lang zu wachsen, gibt uns Hinweise darauf, wie eine bessere Selbstkenntnis die Art und Weise, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen, verändern kann. Während unserer lebenslangen Entwicklung bilden unsere Erfahrungen mit anderen und die Erfahrungen in unserem Körper möglicherweise die Grundlage dafür, dass wir das Gefühl eines Selbst hervorbringen, das lebenslang weiterwächst.

      Wenn wir uns die Zeit nehmen, über unsere zwischenmenschlichen und unsere inneren Erfahrungen nachzudenken, können uns die bessere Selbstkenntnis und die größere Aufmerksamkeit in die Lage versetzen, uns weiterzuentwickeln. Ein tiefer gehendes Selbst-Verständnis basiert außerdem auf einem kohärenten selbstverstehenden Bewusstsein, das unsere Vergangenheit und Gegenwart und die Art, wie wir die Zukunft vorwegnehmen, in einen sinnvollen Zusammenhang bringt. Die wichtige Botschaft hierbei ist, dass wir die aktiven Verfasser unserer eigenen Autobiografien werden können, und unseren Kindern damit helfen zu lernen, wie sie aktiv ihre Wahrnehmung beeinflussen und ihr eigenes Leben schaffen können!

      Logik und Geschichte, Geist und Gehirn

      Der Entwicklungspsychologe Jerome Bruner beschreibt zwei Arten, auf welche der Geist Informationen verarbeitet: Die eine ist ein „paradigmatisch“ deduktiver Modus, der eine Reihe linear in Zusammenhang stehender Fakten durch logische Schlussfolgerungen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen miteinander verknüpft. Das ähnelt dem logischen, linearen, sprachbasierten linksseitigen Modus des Denkens, der in der linken Gehirnhälfte angesiedelt ist. Die andere ist der Erzählmodus, in welchem der Geist durch das Verfassen von Geschichten Daten verarbeitet. Dieser Modus, der sich früher entwickelt und in alle Kulturen zu finden ist, ist ein eigener Prozess, der nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine mögliche Welt schafft. Nach Bruner wird in einer Geschichte sowohl eine Folge von Ereignissen als auch das innere geistige Leben ihrer Charaktere erzählt. Diese erzählerischen Prozesse erlauben es uns, tief in die subjektiven Welten von Menschen einzutauchen.

      Der Erzählmodus des Denkens lässt sich nicht einfach auf einen Ort im Gehirn festlegen. Untersuchungen verwandter Vorgänge, wie der autobiografischen Erinnerung oder der Konfabulation (Erfinden erdachter Berichte als wahrer Erzählungen), deuten auf einige faszinierende Möglichkeiten hin. Die linke Hemisphäre des Gehirns scheint dazu angetrieben zu sein, Geschichten über Ereignisse zu erzählen. Angesichts der Tatsache, dass sie auf logisch-deduktives Denken spezialisiert ist, das versucht zu erklären, wie die Dinge in der Welt miteinander in Verbindung stehen, ist das nicht überraschend. Angefüllt mit Fakten, Sprache, linearer Verarbeitung und dem Drang, Kategorien zu erschaffen, hat die linke Hemisphäre, wie der Kognitionswissenschaftler Michael Gazzaniga es bezeichnet, eine Übersetzerfunktion. Wenn sie jedoch von der rechten Gehirnhälfte getrennt wird, erfindet die linke Seite Geschichten. Sie verfügt dann nicht über den Kontext, um aus dem, was sie wahrnimmt, schlau zu werden. Seltsamerweise scheint es ihr dabei nichts auszumachen, einfach Fakten aneinander zu reihen damit sie stimmig wirken, obwohl sie nicht zu dem größeren Sinn oder Kontext einer Situation passen. Auf diese Weise erscheinen Geschichten stimmig (also irgendwie logisch in ihrem Aufbau), aber nicht kohärent (sie ergeben keinen Sinn im gesamten emotionalen Kontext der Wahrnehmungen).

      Wie kann das geschehen?

      Diese Entdeckung lässt sich unter anderem mit der Rolle der rechten Hemisphäre als Lieferant für den sozialen und emotionalen Kontext erklären. Sie hat bei der Verarbeitung nonverbaler Signale eine zentrale Aufgabe in vorderster Reihe. Diese Hemisphäre ist direkter mit dem limbischen System des Gehirns verbunden, das Emotionen und Motivationszustände hervorbringt. Aus einer Vielzahl von Gründen scheint die Fähigkeit, das subjektive Leben anderer zu empfinden, ihre Signale zu empfangen und zu deuten, von einer funktionstüchtigen rechten Hemisphäre abhängig zu sein. Soziale, emotionale, nonverbale und Kontextinformationen dienen als Rohmaterial für die „Geistsicht“ – die Fähigkeit, den Geist anderer und den eigenen wahrzunehmen.

      Geschichten erzählen von der Abfolge von Ereignissen und vom Innenleben der Charaktere in diesen Ereignissen. Inneres Erleben wird primär von der rechten Gehirnhälfte wahrgenommen und verstanden. Damit eine Geschichte „einen Sinn ergibt“ – damit sie die subjektive/soziale/emotionale Bedeutung des Innenlebens der Charaktere einschließt –, muss sie die rechtshemisphärische Verarbeitung mit einbeziehen. Darum können wir vermuten, dass der Geist der Integration der linken Hemisphäre mit der rechten bedarf, um eine kohärente Geschichte erzählen zu können, eine Geschichte, die das eigene Leben oder das anderer in einem sinnvollen Zusammenhang zeigt. Also entstehen kohärente Geschichten wahrscheinlich durch bilaterale, interhemisphärische Integration.

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