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Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie. Daniel SiegelЧитать онлайн книгу.

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie - Daniel Siegel


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wird. Auf diese Weise, in der die Vergangenheit das Handeln in der Gegenwart beeinflusst, lernen wir, wie wir uns erinnern; die Erinnerung wird von den Veränderungen in den neuronalen Verbindungen gebildet. Die Weise, wie die Erfahrung die neuronale Struktur formt, wird als Neuroplastizität bezeichnet. Dahinter steht ein einfacher Mechanismus, den wir folgendermaßen beschreiben können: Eine Aktivierung von Neuronen kann zu Veränderungen in der Stärke der Verbindungen zwischen den Neuronen, die zusammen aktiviert sind, führen. Wie geschieht dies?

      Wenn Neurone aktiv erregt sind, setzen sie Transmitter frei und werden Teil einer Welle der neuronalen Aktivierungen in diesem Moment. Diese Aktivität führt manchmal zu einer Genexpression von Information* im Zellkern. In jedem unserer Zellkerne befindet sich die Desoxyribonukleinsäure oder DNA, die die Bausteine, das Alphabet, unserer Gene enthält. Die Sequenz der Nukleotide, aus denen unsere Chromosomen bestehen, ist die Verbindung all unserer genetischen Buchstaben, die die Worte unserer Gene bilden. Wir haben diese Sequenz von unseren Vorfahren geerbt, sie trägt die notwendigen Informationen, um unseren Körper zu bilden – und unsere neuronale Architektur zu formen. Die Genexpression führt zur Produktion von Proteinen, die dann die Struktur unseres Körpers und unseres Gehirns verändern können.

      Gene sind wie Bücher in einer Bibliothek – sie müssen gelesen werden, um eine Wirkung auf die Welt zu haben. Bei der Genexpression wird die Doppelhelix der DNA, die im Zellkern aufgerollt ist, entwirrt, und die einsträngige RNA (Ribonukleinsäure) wird entschlüsselt. Die RNA bewegt sich dann zu den wichtigen Bereichen der Zelle außerhalb des Zellkerns, dem Zytoplasma, wo ein Ribosom die Sequenz der RNA aus Nukleotid-Molekülen in Sequenzen von Aminosäuren übersetzt, aus denen die Proteine bestehen, die nun gebildet werden. Diese Proteine haben fundamentalen Einfluss darauf, wie der Körper seine Struktur verändert – in diesem Fall, wie Neuronen neue oder stärkere synaptische Verbindungen miteinander bilden.

      Der wichtigste Aspekt dabei ist, dass es durchschnittlich zehntausend Verbindungen gibt, die ein normales Neuron mit anderen Neuronen verbindet. Angesichts der Tatsache, dass unser Nervensystem aus Hunderten Milliarden Neuronen besteht, kommen wir auf Hunderte von Billionen synaptischer Verknüpfungen. Wenn wir zudem erkennen, dass die Neuronen des Gehirns von Billionen von Gliazellen umgeben sind und unterstützt werden – einschließlich derjenigen, die als Oligodendrozyten und Astrozyten bezeichnet werden – empfinden wir Demut angesichts unseres Unwissens darüber, „wie das Gehirn funktioniert“.

      Wenn wir eine Fertigkeit entwickeln, bilden die Oligodendrozyten nach vielen Stunden Übung (einige Forscher sprechen von mindestens zehntausend Stunden) Myelin. Myelin ist eine fettige Hülle, die sich um das Axon herumwickelt. Wenn Myelin mit dabei ist, wird die Geschwindigkeit des Aktionspotentials, wenn es sich im Axon entlangbewegt, hundert Mal schneller. Mit Myelin ist auch die Erholungszeit, bevor die nächste Aktivierung auftritt – die Refraktärphase – dreißig Mal kürzer. Die Funktionsweise eines myelinisierten neuronalen Netzes* ist 3000 Mal (30 mal 100) besser. So ist es auch kein Wunder, dass Sportler bei Olympischen Spielen Meisterleistungen vollbringen, über die wir nur staunen können. Der Unterschied ist, dass wir nicht die Zeit und Disziplin zum Üben aufgebracht haben, um Myelin um dieselben neuronalen Netze dieser Fertigkeiten zu wickeln.

      Es gibt verschiedene Wege, auf denen Neuroplastizität die Struktur unseres Gehirns als Reaktion auf unsere Erfahrungen verändert. Zwei dieser Möglichkeiten haben wir schon besprochen: Synaptogenese, bei der Synapsen gebildet oder gestärkt werden, und Myelinogenese, bei der neuronale Netze effizienter und schneller werden, weil eine isolierende Hülle um die wechselseitig verbundenen Axone gelegt wird. Möglicherweise gibt es auch Veränderungen in der Art und Weise, wie unsere Gliazellen dem Blutfluss erlauben, den notwendigen Sauerstoff und die Nährstoffe zu den aktivierten Regionen zu bringen. Und zwei andere Wege, wie die Neuroplastizität auf die neuronale Struktur wirkt, sind die Neurogenese und Epigenese*. Neurogenese, also die Differenzierung* der neutralen Stammzellen zu vollkommen reifen Neuronen im Gehirn, findet das ganze Leben über statt. Dieser Prozess, bis eine Stammzelle im wechselseitig verbundenen Gewebe des Gehirns ein voll entwickeltes Neuron gebildet hat, kann zwei oder drei Monate dauern. Im Gegensatz dazu steht die schnellere Bildung von Veränderungen in den synaptischen Verknüpfungen, die innerhalb von Minuten oder Stunden entstehen können und über eine Zeit von Tagen oder Wochen konsolidiert werden.

      Forschungsstudien haben die langsamer entstehende Neurogenese in der Region des Hippocampus lokalisiert, aber zukünftige Untersuchungen werden die Differenzierung von Stammzellen vielleicht auch in anderen Bereichen zeigen. Für die Neuroplastizität gilt Folgendes: Die strukturellen Veränderungen im Gehirn umfassen möglicherweise das synaptische Wachstum schon bestehender Neurone, die sich nun zum ersten Mal miteinander verbinden. Diese strukturellen Veränderungen können auch das zeitaufwendigere Wachstum neuer Neurone umfassen, die dann in der Lage sind, ihre synaptischen Verknüpfungen zu vielen anderen Neuronen wachsen zu lassen. Wenn wir zu diesem Wachstum Myelin hinzunehmen, steigern wir die effektive funktionale Koppelung dieser synaptisch wechselseitig verbundenen Neuronen dreitausend Mal. So entsteht eine ziemlich effiziente neuronale Maschinerie des Energie- und Informationsflusses*. Das ist das Wunder der menschlichen Leistungsfähigkeit, egal ob wir Sportler bei den Olympischen Spielen sehen, einem Konzertpianisten zuhören, die wunderschöne Kunst eines Malers in uns aufnehmen, oder einfach erstaunt betrachten, wie wir als soziale Wesen funktionieren, wie wir aus einer tief empfundenen mitfühlenden* Fürsorge und dem Verständnis anderer schöpfen. In all diesen Aspekten spüren wir eine Wertschätzung für das Geheimnis und die Größe unserer menschlichen Fähigkeiten bei der Entwicklung komplexer Fertigkeiten. Der Raum unserer Möglichkeiten ist weit offen – wenn wir unseren Geist* weise nutzen!

      Neben der Synaptogenese, der Neurogenese, dem Wachstum von Myelin und anderer wichtiger, aber noch unentdeckter Funktionen unserer unterstützenden Gliazellen bei der Formung unserer Erfahrung, wurde auch festgestellt, dass Erfahrungen den Prozess der Genexpression verändern. Diese epigenetischen Veränderungen weisen auf Folgendes hin: Die Weise, wie der Energie- und Informationsfluss durch das Nervensystem* fließt – wie die Neuronen aktiviert werden – verändert direkt die Kontrollmoleküle, die die Genexpression regulieren*.

      Epigenese* ist der Prozess, durch den Erfahrungen die Regulierung der Genexpression beeinflussen. Diese Veränderung der Genexpression wiederum wirkt darauf ein, wie strukturelle Veränderungen im Gehirn selbst geschaffen werden. Hier ist es wichtig anzumerken, dass die Untersuchungen nicht zeigen, dass die Erfahrung die Sequenz der Nukleotide im Genom verändert – das bedeutet, dass die Gene selbst nicht verändert werden. Wir müssen sehr vorsichtig sein, damit wir die Fakten nicht übertreiben, denn dies ist ein Thema, das für die Wissenschaft von großer Bedeutung ist. Wir können aber sagen, dass die regulierenden Moleküle, die ein Teil der Architektur der Chromosomen sind, verändert werden. Um es noch einmal zu betonen: Die Erfahrung verändert nicht die Sequenz der Nukleotide, aus denen die genetischen Buchstaben und Wörter im Buch unserer Chromosomen bestehen, aber die Erfahrung beeinflusst die Bibliothekare, die die Vergabe der Bücher regulieren. Nicht die Gene werden von der Erfahrung verändert, die Genexpression wird verändert. Diese regulativen Moleküle (aus den Gruppen der Histone und Methyle entlang der Chromosomen) formen unmittelbar, wie und wann sich Genexpression ereignet. Dadurch beeinflussen sie auch, wie und wann als Reaktion auf Erfahrungen die Hirnstruktur verändert wird.

      Die Auswirkungen dieser epigenetischen Forschungsergebnisse sind groß, wenn wir beachten, dass in neueste Untersuchungen herausgefunden wurde, dass schwere Traumata* und Vernachlässigung* in der Kindheit die Expression der Gene verändern können, die für die neuronale Netze verantwortlich sind, die unsere Reaktion auf Stress* kontrollieren. Mit anderen Worten, im Falle von Vernachlässigung und Missbrauch* ist es nicht nur so, dass das Wachstum der integrativen neuronalen Netze gestört ist, sondern aufgrund der lang anhaltenden epigenetischen regulativen Veränderungen ist das hormonale Gleichgewicht gestört, das die Resilienz gegenüber Stress unterstützen würde. Zudem zeigen erste Studien, dass diese epigenetischen Veränderungen durch die Geschlechtszellen – das Spermium und das Ei – unserer Großeltern vererbt wurden. Wir können also epigenetische Störungen unserer Fähigkeit zur Selbstregulation* buchstäblich „geerbt“ haben


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