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Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel MarondelЧитать онлайн книгу.

Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel


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müsste jetzt doch alles noch schlimmer sein. Vielleicht ist der Schmerz jetzt noch eine Etage tiefer gerückt. Oder er ist übergelaufen, und irgendetwas in mir hat beschlossen, dass ich nichts mehr fühlen will. Ich halte mich manchmal daran fest, dass Mathis seine Entscheidung bereuen wird. Er kann das nicht ernst meinen. Welcher Mensch tut so etwas? Welcher Mann verlässt seine Freundin dann, wenn sie am Boden liegt? Ich war bestimmt nicht einfach. Ich war nicht mehr lustig, nicht mehr aufmerksam, nicht mehr sexy und auch nicht mehr besonders sozial. Manchmal war ich ungerecht und wollte mir nicht helfen lassen. Ich habe meine Liebe zu ihm nicht mehr fühlen können, ich konnte nichts fühlen, außerhalb meiner kleinen Welt, die von Wunden und Fragen und Ängsten übersät ist. Ich wollte ihn nicht ausschließen, er wurde von meiner Trauer einfach rausgedrängt. Das war keine bewusste Entscheidung, nichts in diesen vergangenen drei Monaten war eine bewusste Entscheidung. Ich habe trotzdem nicht an eine Trennung gedacht. Ich dachte nicht, dass wir uns trennen würden. Aber mein altes Ich starb einfach den Tod meines Vaters mit. Ich bin mir all dessen bewusst, aber ich konnte trotzdem nichts daran ändern. Er hätte mich doch nur ein wenig weiter lieben müssen. Dann wäre ich bestimmt wieder normal geworden – irgendwann. Aber er wollte nicht auf ein neues Ich warten, eines, das erst irgendwann in Zukunft wieder zu Kräften kommen würde. Ich war ihm eine zu große Last geworden.

      Ich werde in sechs Monaten 30. Mit 25 dachte ich, mit 30 hätte ich es voll drauf. Ich dachte, ich würde eine dieser erfolgreichen Frauen sein, die alles hinkriegen.

      Eine, die viele tolle Freunde hat und einen smarten Mann und ein süßes Kind und eine Wohnung, in der kein einziges Möbelstück von Ikea stehen wird. Damals war das alles ganz easy und schön, in meiner Vorstellung. Mein Gegencheck nach dem morgendlichen Eistruhen-Moment sieht wie folgt aus: Mein Vater ist tot, ich habe Angst, dass meine Familie auseinanderbricht, mein Freund ist weg, ich habe keinen Job mehr, viele meiner Freunde sind die Krisenflucht angetreten, ich kann eigentlich kaum für mich geschweige denn für ein Kind sorgen und wohne in einem WG-Zimmer mit mindestens zwei Ikea-Möbelstücken. Aber selbst von diesem WG-Zimmer habe ich nicht viel, denn meistens komme ich eh kaum aus dem Bett. Mein Leben ist gerade irgendwie nicht mehr besonders lebenswert. All das wäre vielleicht nicht so schlimm, könnte ich mich nicht daran erinnern, dass es einmal besser war. Und könnte ich mich nicht daran erinnern, welche Vorstellungen ich früher von meinem Leben heute hatte.

      Ach, fick dich, Sartre. Ich bin ein Wrack.

      Trauer ist Liebe

      »Trauer ist Liebe«, lese ich irgendwo. Ach, du kitschige Kackscheiße, schießt es mir durch den Kopf, und ich laufe mit in meinem Bauch randalierender Wut in mein Badezimmer. Ohne aufs Klo zu müssen, wohlgemerkt. Aber stille Örtchen kann man in Zeiten der Trauer ganz gut gebrauchen. Trauer ist stille Örtchen suchen.

      Ich stehe also, nachdem ich die Tür mit voller Wucht hinter mir zugeknallt habe, hier in meinem Bad und setze mich, weil mir eigentlich auch nichts anderes einfällt, auf den Rand der Badewanne. Von dort starre ich, während ich über diesen famosen Satz mit der Liebe nachdenke, mit verschränkten Armen auf die mir gegenüberliegende stille Wand. Blümchenkacheln. »Trauer ist Liebe«. Wie ein richtig beschissener Werbeslogan hört sich das an! Was, in Gottes Namen, soll an diesem Wort Liebe überhaupt noch bedeutend sein, wo es doch immer und immer wieder inflationär für schmierige Zwecke benutzt worden ist? Ich, ich bin keines dieser Kitschmädchen, das man mit solchen Phrasen leichtfertig besäuseln kann. Jetzt erst recht nicht mehr. Genauso wenig, wie mich all diese anderen Sprüche, die ich in den vergangenen Monaten gehört habe, trösten konnten.

      All die Verlegenheitsphrasen: »Meine tiefe Anteilnahme«, »Mein Beileid«, »Im Herzen mit dir.« Ach, bitch, please. Wir reden ständig in Slogans miteinander. Und dann ist das Soll erfüllt. Dann geht es für die anderen weiter. Aber die harte Zeit, die richtig harte Zeit, fängt doch danach erst an. Ich weiß ja, dass diese Worte gut gemeint sind. Ich weiß doch auch, dass die alle nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, mit diesem Scheißthema Sterben.

      Aber hier, jetzt, in diesem Moment helfen mir diese Worte nicht. Hier, jetzt, in diesem Moment, während ich als Häufchen Elend auf Blümchenkacheln starre, spüre ich keine Anteilnahme, keinen Menschen, der meinem Leid beiwohnt, kein Herz, das mit mir schwingt. Jetzt und hier hasse ich mein Leben abgrundtief, und ich hasse mich selbst in diesem Leben. Kein Spruch kann mir meine verdammte Last nehmen. Trauer ist Einsamkeit.

      Liebe. Schmalzige, redundante Popsongs und Rosenblätter auf dem Bett. Kotz. Liebe ist so ein lautes, nichtssagendes Wort geworden. Liebe, das ist das mainstreamigste Wort der Welt. Sogar Mathis hat mir gesagt, dass er mich liebt – viel zu oft und zu leichtfertig hat er das vielleicht getan. »Oh mon amour, je t’aime«, hat er mir auf seiner Gitarre klimpernd vorgesungen, mit geschlossenen Augen und einem seligen Lächeln auf den Lippen. Und ich habe ihm dabei bewundernd zugehört – und geglaubt, dass seine Worte ewige Gültigkeit besitzen. Dabei war er wahrscheinlich nur in eine Projektion seiner Wünsche verliebt. So wie wir uns wohl alle ständig von den Projektionen unserer Wünsche angezogen fühlen. Das Bild einer hübschen, starken Frau, die sensibel ist, aber trotzdem alles stemmen kann. Das Bild seiner ganz persönlichen heiligen Maria, das hat er geliebt. Und jetzt, jetzt fühlte er sich wahrscheinlich sogar betrogen von mir, weil ich genau diese Frau, von der er glaubte, dass ich sie bin, nicht mehr sein konnte. Vielleicht, weil ich sie nie war. Ich bin bedürftig und schwächelnd und kackhässlich – und furchtbar schwer zu verstehen in meiner ewigen verdammten Selbstbemitleidung. Deshalb ist es jetzt vorbei mit der Liebe, vorbei mit seinen Liedern. Wer will schon eine traurige Loserin daten, die ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle hat?

      Vor Jahren, in einer Welt, in der noch alles halbwegs in Ordnung war, versteckte Mathis manchmal Liebesbotschaften in Form von kleinen Zettelchen in meiner Wohnung. Später schrieb er mir ein Lied – heute fühlt sich das so kompromittierend an –, es trug ganz klischeehaft meinen Namen. »Muuuuuuriel«, so ging der Refrain, und dann kam irgendwas. Irgendwas, was ich damals als den ultimativen Liebesbeweis ansah. Ich muss wirklich exorbitant verstrahlt gewesen sein. Ich war viel zu anfällig für diese französischen Schmalzliebe-Aktionen.

      »Pfffffff«, lasse ich durch meine Schneidezähne sausen. Tja, warum war ich wohl so dumm damals? Weil die Franzosen die Verführung ja quasi erfunden haben. Mathis war der König der Verführer. Und jetzt war er der König der feigen Schweine. Es macht mich so wütend, so zähnefletschend wütend, darüber nachzudenken, welch gute Verführer diese verdammten Franzosen sind.

      Heute haben all diese »Wir gegen den Rest der Welt«-Worte einfach keine Bedeutung mehr. Die Versprechungen von einer Hochzeit am Strand seines Heimatortes. Die Tausenden Momente der tiefen Intimität, in der wir uns in die Augen sahen und ich glaubte, nichts könne an dieser Verbindung rütteln, waren von Mathis eingetauscht worden gegen ein telefonisches: »Melde dich. Wir sollten Freunde bleiben.« All die Liebeschwüre sind verpufft, so wie das Leben meines Vaters verpuffte. Genau so verpuffte auch die Liebe. Im Verliebtsein versuchen wir vielleicht, den Tod zu überwinden. Wir glauben, es gäbe uns ewig in dieser Verbindung zweier Seelen. Das macht das verdammte Verliebtsein mit uns.

      Während ich an diese große Farce, die sich Liebe schimpft, denke, beginne ich, laut zu lachen. So, als hätte ich ’nen Knall. Die große Liebe, für immer und ewig. Wie konnte ich nur so fürchterlich dumm sein? Wie konnte ich nur daran glauben? Nichts hält für immer und ewig. Glaubt mir, nichts. Trauer ist ganz schrecklich bitter.

      Papa und Mathis waren sofort ein Herz und eine Seele. Sie waren sich ähnlich, wenn auch nicht äußerlich. Aber im Herzen, da waren beide Vagabunden. Charismatische, schlaue, offenherzige und rastlose Vagabunden. Wenn wir zu Besuch kamen, gingen die beiden häufiger allein miteinander spazieren, sie hatten nicht die gleiche Muttersprache, aber beide einen Hang zu Fremdsprachen. Papa lies manchmal einen Satz auf Französisch oder Spanisch fallen, und die beiden lachten dann und hatten irgendwie immer ihr eigenes kleines Ding am Laufen. Papa erzählte, Mathis stellte Fragen und sah Papa dabei mit seinen großen blauen Augen an. Und beide waren glücklich. Männerfreundschaft. Auch das habe ich verloren. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Die Trauer ist ein Trauerspiel.

      »L’amour, l’amour. Nun, ich sehe ja jetzt, wie weit es mit deiner l’amour ging«, gifte ich einem nicht anwesenden Mathis entgegen,


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