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Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel MarondelЧитать онлайн книгу.

Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel


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aus Tiefen kommen, in die ich zuvor noch nie geblickt habe. Sie ist Ohnmacht. Pure Ohnmacht.

      Ich lege meine Arme um mich, ganz fest, während ich mich langsam vor- und zurückwiege. Da sitze ich nun, minutenlang, im Schutz meiner eigenen Umarmung und spüre eine tiefe Leere.

      »Was ist das nur?«, frage ich kaum hörbar und fast apathisch in den Raum und lasse mich irgendwann erschöpft zurück auf mein Kissen gleiten. Neben mir höre ich ein gleichmäßiges Schnaufen. Mathis ist bereits wieder eingeschlafen. Während ich die Augen schließe und langsam selbst wieder schläfrig werde, zieht es in meinem Herzen. Ich bin einsam. Ich bin so schrecklich einsam.

      Jede Nacht, da geht die Welt unter.

      Und du, du kommst nie mehr wieder, Papa.

      Vom Sinn und Unsinn von Tapferkeitsmedaillen

      Mein Vater starb eineinhalb Jahre nach seiner Diagnose im Alter von 57 Jahren an Speiseröhrenkrebs. Und obwohl ich wusste, dass er sterben würde, glaube ich heute, dass ich trotzdem nicht darauf vorbereitet war. Ich konnte nicht darauf vorbereitet sein, ein Elternteil zu verlieren, ganz einfach, weil ich zuvor noch nie ein Elternteil verloren hatte.

      Ich bin zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, eine erwachsene Frau, die glaubt, diesen schweren Verlust mit Stärke und Willenskraft und viel Rationalität verarbeiten zu können. Ich musste kein Kind beerdigen, mein Vater starb vor mir, das ist der natürliche Lauf der Dinge. Es ist die älteste Geschichte der Welt: Ein Mensch stirbt. Menschen verlieren andere Menschen. So ist das nun einmal. Wer bin ich, dass ich mich davon komplett aus der Bahn werfen lassen würde?

      In den ersten Wochen nach Papas Tod bin ich vor allem damit beschäftigt, die Fassade einer tapferen Frau aufrechtzuerhalten, die sich von den Umständen dieser Tragödie nicht in die Knie zwingen lassen will. Ich will nicht melodramatisch sein, will nicht, dass sich mein Leben auf den Kopf stellt, ich will ein funktionierender Teil dieser Gesellschaft sein, und ich will nicht das Gefühl haben, dass man sich rund um die Uhr um mich kümmern muss. Ich will normal sein.

      Ich will das, was alle anderen auch wollen: etwas erreichen, etwas leisten, nichts verpassen, vielleicht sogar berühmt werden. Und ich will eine Tapferkeitsmedaille erhalten fürs Emotionenschlucken, fürs Tugendhaftsein. Irgendwie gibt mir diese Welt das Gefühl, dass ich bloß nicht ausscheren soll. Wer es wirklich will, der schafft es auch nach oben und lässt sich auch nicht von den erschütterndsten Erlebnissen von seinem Ziel abbringen. Ich denke an meine Beziehung, an meine gerade beginnende Karriere als Redakteurin und Moderatorin und an all die Dinge, die ich mir im Hinblick darauf noch vorgenommen habe. Wo werde ich landen, wenn ich das jetzt alles schleifen lasse?

      »Ich kann das schon, ich muss jetzt stark sein«, sage ich mir gebetsmühlenartig immer wieder, das tat ich auch in der Zeit, als mein Vater zwar noch am Leben war, ihn die Folgen seiner Krankheit aber immer mehr körperlich zeichneten. Ich will nicht wahrhaben, wie sehr auch mich diese Zeit geschwächt hat. Wie sehr die Tatsache, dass sein möglicher Tod ständig, aber unausgesprochen als Drohkulisse über unserer Familie thronte und die Hoffnung auf eine Heilung immer geringer wurde, an mir und meiner eigenen Lebenskraft gesaugt hat. Gleichzeit fühle ich mich schuldig, fürchterlich schuldig, weil ich der Hilflosigkeit über sein Schicksal ausgeliefert war und weiterleben darf, während er am Ende doch sterben musste. Wie konnte ich einfach so weitermachen, während er wusste, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb?

      Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, in dem es um die Erfüllung meiner Träume geht und ich die Möglichkeit habe, die Weichen dafür zu stellen. Ständig versuche ich, die Balance zu halten, zwischen zwei Welten, denen es immer schwieriger fällt, nicht ineinander zu verschmelzen: Im Außen bastle ich an meiner Karriere, drehe, werde auf Castings eingeladen. Ich will gute Arbeit abliefern. Ich will smart, hübsch und selbstbewusst wirken.

      In mir spielt sich aber immer der gleiche Horrorfilm ab: Papa verliert seine braunen Locken. Papa kotzt. Papa wandert nachts durch die Wohnung und hat Angst. Papa am Atemgerät. Papa im Rollstuhl. Papa beugt sich zu Mama und sagt leise: »Das ist mein letzter Frühling.«

      Wo bleibt die University of Life, wenn man sie braucht? Nach eineinhalb Jahren Krebszeit, die unsere gesamte Familie befallen hat, bin auch ich bis in die kleinste Zelle meines Körpers ermüdet vom Terror dieser Bilder – und dem Aufrechterhalten einer Fassade. Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich diese Bilder einfach so teilen kann. Dass es in dieser Gesellschaft viel Platz gibt für das Thema Sterben.

      Als Papa dann tot war, dachte ich, ich könnte irgendwie weitermachen, ohne den großen Knall zu spüren.

      Ich will der Trauer nicht zu viel Raum geben, sie macht mir Angst, ihre Rohheit bedroht mich und meine Pläne für mein Leben. Ich bin nicht mehr stark, will es aber zumindest so aussehen lassen. Aber die Kraftreserven, die ich aufbringen muss, um das Kartenhaus nicht einstürzen zu lassen, sind schon bald aufgebraucht …

      Vier Wochen später – Der Absteiger der Woche

      »Das sind die Aufsteiger der Woche«. Ich wiederhole die Überschrift des Posts, zu dem ich gerade in meinem Facebook-Feed gescrollt bin, in kaum hörbarer Lautstärke. Auf dem Foto zum Artikel eines Onlinemagazins, das jede Woche Köpfe und Unternehmen der Digitalbranche als besonders erfolgreich und somit als Aufsteiger kürt, ist eine hübsche, langhaarige Brünette zu sehen. Sie lächelt mit weißen Zähnen vor einem weißen Fotostudiohintergrund, ihren Kopf und die Augen direkt in die Kamera gerichtet. Die Aufsteigerin der Woche hat vor nichts Angst, das sieht man gleich. Ihr Blick sagt so etwas wie »Ich bin ein proaktiver High-Achiever mit echten Core-Values, der seinem Unternehmen die passende Rendite einfahren wird.« Oder vielleicht auch einfach nur: »Yay, yay, yay!« Die langhaarige Brünette mit dem kessen Lächeln trägt Perlenohrringe und eine perfekt gebügelte hellblaue Bluse über einem – mit Sicherheit – perfekt gereinigten dunkelblauen Blazer. Mit diesem Look würde sie jeden Contest zur Mrs.-Klischee-Unternehmensberaterin gewinnen. Die Aufsteigerin bietet keinerlei Angriffsfläche, außer vielleicht der, dass sie keinerlei Angriffsfläche bietet.

      »Du tust Menschen unrecht und bist eine zynische Kuh«, denke ich mir noch, mühe mich aber dann trotzdem nicht ab zu erfahren, für welche Leistungen die Dame ihren Titel erhalten hat. Stattdessen quäle ich mich hoch in Richtung Spiegel. Beim Aufstehen wird mir wie immer schwarz vor Augen – und schon geübt darin, mich trotzdem weiter auf den Beinen zu halten, laufe ich die fünf Schritte in Richtung meines Ziels, ohne eigentlich zu wissen, warum ich es überhaupt zu meinem Ziel gemacht habe. Als Kind habe ich einmal gesehen, wie einem Huhn der Kopf abgehackt wurde. Und fand es erstaunlich und zugleich zum Gruseln, wie das Huhn immer weiterlief, ohne Kopf und ohne Ziel und Richtung. Bis es irgendwann umfiel und sich nicht mehr bewegte. Warum habe ich immerzu das Bild dieses verdammten Huhns vor Augen?

      Eine andere langhaarige Brünette steht da nun vor dem Spiegel. Wie eine Gewinnerin sehe ich nicht gerade aus. Der Händedruck der Aufsteigerin würde mich in diesem Moment wahrscheinlich sofort zu Boden zwingen. Statt einer hellblauen Businessbluse trage ich Unterwäsche, die natürlich nicht zusammenpasst. Darüber meinen – immerhin auch hellblauen – Lieblings-Billigkimono, den mir meine Stewardess-Freundin Kathrin aus China mitgebracht hat und dessen Gürtel ich immer irgendwo verliere und dann nicht suche, weil es mir eigentlich auch egal ist, ob mein Lieblings-Billigkimono offen steht. Geschweige denn, wie ich im Allgemeinen aussehe. Außer ich habe eine schlechte Pizza bestellt, was sowieso nur noch selten passiert, da ich eigentlich nie Hunger habe. Ich bin sehr eitel, nicht gerade eine Eigenschaft, auf die ich stolz bin. Aber an meiner noch oder nicht mehr vorhandenen Eitelkeit kann ich zumindest festmachen, wie es um mich steht. Solange es mir noch nicht ganz egal ist, ob ich dem Pizzaboten nicht mehr ganz frisch riechend und in hässlicher Unterwäsche die Tür öffne, gibt es auch noch etwas Lebenskraft. Gerade würde ich zumindest versuchen, den Billigkimono lose zusammenzuhalten.

      Meine Haare sind dennoch ungekämmt, meine Haut blass, und ein seltsam regungsloses Paar brauner Augen starrt durch mich hindurch. Ich sehe aus wie nach einer langen und durchzechten Partynacht, nur ohne Reste von Wimperntusche unter den Augen und auch ohne einen versöhnlichen Gesichtsausdruck, der verrät, dass der Qual erst Freuden vorausgegangen


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