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Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel MarondelЧитать онлайн книгу.

Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel


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und seine Schatten. Ich habe den Menschen hinter der Figur meines Vaters nicht ergründen können.

      »Vielleicht sind meine Attacken ein Bündel aus all den ungelösten Fragen, die sich nachts aus meinem Unterbewusstsein ihren Weg suchen«, denke ich plötzlich.

      Mir laufen Tränen über die Wangen. Immer mehr. Die Welt vor mir verschwimmt, und ich glaube zu erahnen, dass ich nicht nur betrauere, was ich mit ihm erlebt habe. Sondern auch, was ich nicht erlebt habe, was wir nicht erleben konnten. Und nie mehr die Chance erhalten werden, es zu erleben. Mein Wunsch nach diesen Erlebnissen wird für den Rest meines Lebens unerfüllt bleiben. Und das ist so fürchterlich gemein.

      Papa ist nun acht Wochen tot – Leer getrunkene Tassen

      Mathis und ich sind weggefahren. Zu seiner Familie nach Südfrankreich. Einfach mal Abstand nehmen von der ganzen Schwere zu Hause. Die Attacken bekomme ich nachts immer noch.

      Ich liebe das warme Licht hier, und ich liebe die Behutsamkeit, mit der Mathis’ französisch-kreolische Großfamilie an mich herantritt. Vielleicht auch, weil sie wissen, was ich fühle.

      Seine Großmutter, die ich ebenfalls liebevoll »Mamie«, also »Omi« nenne, ist eine kleine Frau mit kurzen weißen Haaren und großen strahlenden Augen. Sie hat vor vielen Jahren ihre Tochter verloren, Mathis’ Tante. Von da an sind deren beiden Kinder bei Mamie und ihrem Mann aufgewachsen. Auch er starb letztes Jahr. Mamie strahlt trotzdem eine unermüdliche Lebensfreude aus. Ich wünschte mir, ich wäre eines Tages wie sie. Ich fühle mich ihr nahe, denn sie kennt die Tragik auch, die man fühlt, wenn ein Mensch viel zu früh stirbt. Ich schäme mich dann nicht so, wenn ich weinen muss.

      Ich denke manchmal an meine eigene Familie und verspüre ein ziependes schlechtes Gewissen in meinem Bauch. Weil meine Mutter vielleicht gerade auch meine Nähe und Geborgenheit bräuchte. Und ich diese Kraft gerade einfach nicht aufbringen kann. Noch nicht. Mama stürzt sich in Aktivitäten, in das, »was getan werden muss«. Sie versucht, sich so von dem Schmerz abzulenken. Ich frage mich, wie das ist, nach über 30 Jahren plötzlich allein zu sein. Ich kann sie nicht trösten, ich weiß selbst nicht mal, wohin mit mir.

      »Aus einer leeren Tasse ist nichts zu schöpfen«, kommt mir in den Sinn. Ich hoffe sehr, Mama nimmt es mir nicht übel.

      Oma Mamie tischt jeden Tag groß auf und warnt mich jedes Mal, ich solle mit der kreolischen Schärfe ihres Essens aufpassen. Und jedes Mal versichere ich ihr, ich könne das aushalten. Die Ungläubigkeit, die im Blick der älteren kreolischen Dame liegt, darüber, dass eine Deutsche wie ich scharfes Essen so sehr liebt, bringt mich jedes Mal zum Kichern. »Das gibt es doch gar nicht!«, ruft sie dann, und ich lege noch einmal nach. Dann kichern wir gemeinsam.

      Es ist seltsam zu lachen, wenn es einem eigentlich hundsmiserabel geht. Ich denke an den Heulkrampf, den ich am Vortag hatte, und dass ich mich auf dem Klo eingeschlossen habe, weil ich nicht wollte, dass mich alle 15 Anwesenden beim Abendessen bitterlich weinen sehen. Es ist ein Wechselbad, das mich müde macht. Ich bin vollkommen erschöpft von den verschiedenen Gefühlszuständen, in die mich meine Seele vom einen zum anderen Moment hineinmanövriert.

      Ich habe mein Facebook-Profilbild geändert. Das Foto, das mich in einem Sonnenblumenfeld zeigt, hat Mathis von mir geschossen. Ich grinse breit. Es war ein schöner Moment, voller Intensität. Manchmal vergesse ich für einige Stunden alles.

      Ist es richtig, dass ich mich so fröhlich zeige? Ich bin mir nicht sicher, was richtig ist, denke dann aber an Papa und glaube, er wäre froh, mich so zu sehen.

      »Schön, dass du wieder so glücklich bist«, schreibt jemand als Reaktion auf mein Bild in einer privaten Nachricht. Ich antworte nicht. Vielleicht müsste ich mich freuen über diesen Satz. Kann ich aber nicht wirklich. Denn er fühlt sich an, wie sich so viele Worte angefühlt haben, die mich nach dem Tod meines Vaters online oder per Handynachricht erreicht haben: nach leeren Worthülsen. »Wir sind bei dir«, stand da und »Melde dich, wenn du was brauchst«.

      Kaum einer hat mich angerufen. Selbst Menschen, von denen ich dachte, sie seien enge Vertraute: nichts. Langjährige Freundinnen aus der Schulzeit, die meinen Vater seit meiner Jugend kannten, meldeten sich mit kurzen schriftlichen Beileidsbekundungen. Danach habe ich nie wieder etwas gehört. Ein Anruf in einer der Stunden, in denen ich verängstigt und tief traurig im Bett lag, hätte mich gefreut. Glaube ich. Der Versuch eines Anrufes zumindest.

      Vielleicht löst die Nachricht über mein »wiedererlangtes Glück« deshalb solch gemischte Gefühle bei mir aus. Mein Facebook-Profilbild sagt also mehr darüber aus, wie es mir geht, als ein Anruf, indem man mich einfach fragt, wie es mir geht?

      »Ihr macht es euch ganz schön leicht, ihr unverbindlichen Gefühlskrüppel«, schießt es mir durch den Kopf. Ja, ich bin wütend in manchen Momenten und denke solche Sachen. Und frage mich gleichzeitig insgeheim, ob ich anders handeln würde, hätte ich nicht das erlebt, was ich erlebt habe.

      Ich denke an all die Menschen, die Papa nie angerufen haben, als er erbittert gegen den Krebs kämpfte. »Wir wussten nicht, wie schlimm es um ihn stand«, sagten sie dann. Ich denke an seinen traurigen Gesichtsausdruck, als ich ihn fragte, ob sich der ein oder andere denn nun bei ihm gemeldet habe. »Nein, gar nicht mehr«, sagte er dann leise und tat mir so unendlich leid. Hat er gedacht, dass er diesen Menschen nichts bedeutete? Ich denke das nämlich über die Leute, die sich nicht mehr bei mir melden, die mich auf einmal wie die Pest meiden. Dieser scheiß Tod, die glauben wohl alle, er sei ansteckend. Steht hinter dem Ganzen eine Ohnmacht? Die eigene Angst vor dem Tod? Oder die Unfähigkeit, an schwierigen Situationen teilzuhaben?

      »Vielleicht sind wir ja alle leer getrunkene Tassen«, denke ich.

      Trauer ist nicht sexy

      Mathis kommt ins Bett und wünscht mir eine gute Nacht. Dann dreht er mir dem Rücken zu. Jeden Abend. Unsere Beziehung hat sich mit der Trauer verändert. Ich habe mich verändert. Mit einer normalen Paarbeziehung hat das nicht mehr viel zu tun. Er gibt sich Mühe, das glaube ich wirklich. Aber nachts, da gibt es keine Umarmungen mehr, keine Berührung. Nein, Sex haben wir auch nicht. Das liegt an mir. Allein die Vorstellung lässt mich erschaudern. Mein Unterleib ist eigentlich nicht existent. Das Schlimmste ist aber, dass ich auch nicht mehr viel fühlen kann. Für ihn.

      Ich bin nicht mehr verliebt in Mathis, ich könnte nicht einmal sagen, ob ich ihn noch liebe. Ich fühle einfach nichts, außer dass ich will, dass er bei mir bleibt. Ich fühle Schmerz, manchmal fühle ich mich abgelenkt von diesem Schmerz. Den Rest des Tages bin ich müde. Ich will eigentlich immerzu schlafen.

      Ich kenne das nicht, ich kenne all diese Zustände, die ich durchlebe, nicht. Ich fühle mich aufgerieben, verletzlich und klein. Ich möchte umsorgt werden. Ich wünsche mir, dass er mich zudeckt und mir Tee kocht und einfach da ist, wenn ich mich in den Schlaf weine. Oder nicht sofort einschläft, wenn ich neben ihm liege und nicht schlafen kann. Das ist es, was ich brauche. Ich weiß, dass ich das nicht verlangen kann, aber es wäre schön, wenn wir darüber sprechen könnten. Ich glaube, er fühlt sich überfordert. Wir sind so oft still, wenn wir allein sind. Er ist fast unbeholfen mit mir. Wir sind zwei Jahre zusammen, es ist nicht so, dass er mich nicht kennen würde.

      Aber plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir uns fremd geworden sind. Ich wünschte so sehr, er könnte mich verstehen. Ich wünschte mir so sehr, es wäre so wie früher mit mir. Ich wünschte, ich könnte wieder so sein wie früher. Aber zwischen uns ist eine unsichtbare Wand entstanden – er ist in seiner, ich bin in meiner Welt. Er mochte meinen Vater, sehr. Er weinte mit mir. Er weinte unglaublich viel auf der Beerdigung.

      Aber jetzt, zwei Monate später, habe ich das Gefühl, dass ich ihm nur noch eine Last bin. Weil er es nicht besser machen konnte. Vielleicht, weil er nicht aushält, dass er mich aushalten muss. Ich werde morgen allein zurückreisen, er bleibt bei seiner Mutter in Frankreich, und wir haben einige Wochen Pause voneinander. Bestimmt wird danach alles wieder gut. Dann kommt er ins Bett gekrochen und umarmt mich wieder, ich kuschel mich an ihn, und wir können wieder über alles sprechen.

      Ich muss einfach festhalten. An der Hoffnung festhalten. Nichts außer der Hoffnung, dass diese schwere Zeit irgendwann vorübergeht.

      Zwei


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