Empathie - Ich fühle, was du fühlst. Stephanie Red FeatherЧитать онлайн книгу.
gibt es, wenn ich ganz ehrlich sein soll, auch jetzt noch Zeiten, in denen ich von starken Emotionen oder äußeren Reizen überwältigt werde. Das Wissen, dass man eine Empathin ist, macht den Alltag nicht unbedingt einfacher. Das Leben als Empathin und die Fähigkeit, den Alltag erfolgreich zu meistern, fordern ständige Wachsamkeit, wohlüberlegte Entscheidungen (die oftmals den gesellschaftlichen Normen zuwiderlaufen) und eine große und gut bestückte Werkzeugkiste.
Ich habe mit vielen ebenfalls empathischen Klienten und Kursteilnehmern gearbeitet, die ähnliche Erfahrungen gemacht und ähnliche Ängste durchlebt haben. Ihre Fragen spiegelten meine eigenen Fragen wider: „Was stimmt nicht mit mir?“ „Warum ist es für andere Menschen so viel einfacher, mit Emotionen umzugehen?“ „Fühle nur ich so?“ „Gibt es noch jemanden, der so viel weint wie ich?“ „Warum bin ich so anders?“ „Bin ich ein gesellschaftlicher Krüppel?“ „Warum reagiere ich so empfindlich auf jede Kleinigkeit?“ „Bin ich womöglich verrückt?“
Es ist gang und gäbe, dass man immer dann, wenn man in der Minderheit ist, glaubt, derjenige zu sein, der unnormal ist. Unsere Familien haben uns nicht verstanden oder wussten nicht, wie sie uns helfen konnten, und die Botschaften, die sie uns im Laufe unserer Erziehung vermittelt haben, haben die Vorstellung, dass mit uns etwas nicht stimmt, höchstwahrscheinlich noch unterstützt. Wenn Sie in der Familie beispielweise der Einzige sind, der mit Geistern kommuniziert, geben die anderen Familienmitglieder Ihnen meist klar zu verstehen, dass das „nicht normal“ ist und dass Sie damit aufhören sollen. Aus solchen Botschaften schließen wir, dass mit uns etwas grundlegend nicht in Ordnung ist und dass wir unsere „abnormalen“ Qualitäten verleugnen oder verbergen müssen, wenn wir dazugehören, akzeptiert werden, die gleichen Chancen wie alle anderen haben, normal erscheinen und erfolgreich sein wollen.
Dorians Geschichte
Zu Dorians ersten Kindheitserinnerungen gehören finstere, bösartige Wesen, die häufig nachts auftauchten und ihn verhöhnten. Obwohl er sich im ersten oder zweiten Stockwerk des Hauses befand, sah er am Fenster grauenvolle Gesichter, die gegen die Scheiben schlugen und über sein Entsetzen lachten. Meist konnte nur er diese Erscheinungen sehen, aber einmal hämmerten schattenhafte Wesen an alle Fenster des Hauses und er rannte ins Zimmer seiner Mutter, um Geborgenheit bei ihr zu suchen. Wieder konnte nur er allein die Wesen sehen, aber alle anderen hörten sie und wussten, dass etwas vor sich ging. Wenn solche Energien auftraten, spürte Dorian auf körperlicher Ebene einen erstickenden Druck auf der Brust, bekam keine Luft mehr und war wie gelähmt.
Obwohl die anderen Mitglieder der Familie von den Auftritten der „finsteren Wesenheiten“ genug mitbekamen, um sie nicht leugnen zu können, wurde Dorian oft zurückgewiesen und ausgegrenzt. Er wurde von seinem Vater und seinem Bruder gedemütigt, weil er anders und seltsam war, und sein Vater zwang ihn sogar zu einer psychiatrischen Untersuchung. Beide beriefen sich oft auf Logik und erklärten: „Das ist aus logischer Sicht unmöglich.“ Seine Mutter schottete sich gegen die Realität der Vorfälle ab und sagte: „Gott wird sich darum kümmern.“ Dorian erfuhr nie Bestätigung, Trost, Führung oder Akzeptanz für das, was er sah, und für die Wirkung, die es auf ihn hatte. Er war isoliert, abgetrennt und lange Zeit verbittert.
Weil die meisten Menschen anders als wir nicht bewusst empathisch sind und den Ursprung unserer ausgeprägten Sensitivität nicht verstehen, werden wir oft als dünnhäutig, launenhaft, in einer Traumwelt lebend oder sogar als psychisch labil abgetan. Dies geht häufig mit der landläufigen Ansicht einher, dass unser ganzes Leben sich enorm verbessern würde, wenn wir nur endlich erwachsen werden oder ein wenig Rückgrat zeigen wollten. Dorians Geschichte ist typisch, was die Reaktion seiner Familie anbelangt. Wenn die Lösung doch nur so simpel wäre wie das, was wir nach Meinung anderer Menschen „einfach“ tun können sollten.
VON DER AUTHENTIZITÄT ZUR KOMPLIZENSCHAFT
Für die meisten Empathen wird Unterdrückung zur normalen Vorgehensweise. Um in unserer Familie, in der Gesellschaft und in der Welt zurechtzukommen, verbannen wir den Schatz unserer Einzigartigkeit ins Exil. Weil wir keine Führer hatten, um uns zu helfen, wenn unsere empathische Natur zum Ausdruck kam, hat sie uns fast immer in Schwierigkeiten gebracht. Also haben wir unbewusst die Entscheidung getroffen, dass es sicherer ist, sie zu verstecken und so zu tun, als wären wir jemand anderer.
Das war auch bei mir nicht anders.
Ich war ein sehr kreatives und intuitives Kind. Ich zeichnete und malte und machte alle möglichen kunsthandwerklichen Projekte. Ich besuchte eine Schule für darstellende Kunst, wo ich an Gesangswettbewerben teilnahm, Arbeiten in Kunstausstellungen der Schule zeigte, bei Tanzveranstaltungen, Theaterstücken und Musicals auftrat und für mehrere Schulzeitschriften schrieb. Außerdem war ich Mitglied in der Tanzkompanie meiner Stadt.
Ich war äußerst sensibel und konnte spüren, wenn andere Menschen sich nicht wohlfühlten oder aufgebracht waren. Meine Mutter sagte, dass ich schon als kleines Kind intuitiv erkannte, wenn jemand deprimiert oder verärgert war oder einen schlechten Tag gehabt hatte, und den betreffenden Menschen zum Zeichen der Bestätigung beispielsweise umarmte oder mich auf seinen Schoß setzte. (Das tue ich auch heute noch – den Schoßteil allerdings ausgenommen.) Unbewusst übernahm ich die Energien von Menschen, die Probleme hatten, in dem instinktiven Bemühen, sie von ihrem Schmerz zu befreien. Meine Freunde kamen mit ihren Problemen immer zu mir.
Ich war schon eine kleine Medizinfrau, ehe ich überhaupt wusste, was es bedeutet, eine Medizinfrau zu sein. Ich hatte sogar meine spezielle Sammlung magischer Gegenstände, die ich in einem gehäkelten Beutel mit Kordelzugband aufbewahrte. Natürlich waren es nur Steine, Stöcke, Modeschmuck und andere kleine Dinge, die für mich aber eine besondere Bedeutung und besondere Kräfte besaßen.
Als ich acht Jahre alt war, brach meine Welt zusammen, weil meine Eltern sich scheiden ließen. Bis zum achten Schuljahr lebte ich bei meiner Mutter und besuchte meinen Vater in den Sommerferien und an Weihnachten. Das Leben als Kind einer alleinerziehenden, mittellosen Mutter war nicht einfach und ich verarbeitete ein hohes Maß an Schmerz und Wut über die Scheidung durch aufsässiges und ausagierendes Verhalten. Ich weiß, dass ich für meine Mutter enorm anstrengend war, und das führte dazu, dass ihre Botschaften zweideutig wurden. Sie ermutigte mich einerseits, weiter an meinen kreativen Fähigkeiten und künstlerischen Ausdrucksformen zu arbeiten, während sich andererseits unterschwellige Andeutungen wie nicht zu groß, zu viel, zu laut oder zu extrem einschlichen. Ich besaß zweifellos ein hohes Maß an Energie, und die kollektive Programmierung in Bezug auf Frauen und Macht, die auch im Unterbewusstsein meiner Mutter verborgen lag, zeigte sich in den Botschaften, die mich auf dem Weg zur jungen Frau formten.
Meine Mutter ist ebenfalls Empathin, was ihr zur damaligen Zeit allerdings in keiner Weise bewusst war. Ich beobachtete und verinnerlichte also auch ihre unsteten Versuche, nicht nur mit ihrem hochsensiblen Nervensystem, sondern auch mit der Wut und den anderen verdrängten Emotionen zurechtzukommen, die direkt unter der Oberfläche brodelten. Das verstärkte die widersprüchlichen und verwirrenden Botschaften: Unterdrücke deine Gefühle. Lächle. Leugne. Tue so, als sei alles in Ordnung. Nimm Medikamente. Finde rationale Erklärungen. Projiziere. Gefalle anderen. Verstecke dich. Flüchte dich in die Sucht. Ich konnte überhaupt nicht anders, als mich von ihren ungelösten Problemen beeinflussen zu lassen – und sie zu übernehmen.
Während der achten Klasse beschloss ich in der unendlichen Weisheit einer Dreizehnjährigen, dass ich bei meinem Vater und bei meiner Stiefmutter leben wollte, und meine Mutter war einverstanden. Ich war so naiv zu glauben, dass ich meine kreativen und künstlerischen Aktivitäten fortsetzen können würde, aber da lag ich absolut falsch. Mein Vater und meine Stiefmutter erlaubten es nicht. Sie maßen diesen Dingen keinen Wert zu und hatten keine Ahnung, wie wichtig sie für meine psychische und geistige Gesundheit waren. Ich hörte auf zu tanzen, ich hörte auf zu singen und ich trat nicht mehr auf. An der High School wurde mir ein Wahlfach erlaubt und ich entschied mich in allen vier Jahren für Kunst. Die einst gesellige und ausdrucksstarke junge Frau begann den Wechsel hin zu Introvertiertheit und Unterdrückung. Hinzu kam, dass meine Stiefmutter Betty und ich ein von Konflikten geprägtes Verhältnis hatten und uns regelmäßig stritten.
Während meiner Zeit an der