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Wassergeld. Harald SchneiderЧитать онлайн книгу.

Wassergeld - Harald Schneider


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überproportional viele Straftaten von Eigentumsdelikten bis hin zur Körperverletzung aktenkundig. Im Grunde müssten wir in der warmen Jahreszeit mehrere Beamte vor Ort nur für diese Camper abstellen, was personalpolitisch nicht durchzusetzen war.

      Ich winkte ab. »Solange es nur Sachschaden gibt, ist mir der Deichbruch allemal lieber als die Weihnachtsfeier. Ein Abend ohne KPD ist ein guter Abend.«

      Der Parkplatz unserer Inspektion war bereits gut gefüllt. Der Sozialraum noch viel mehr. In der Eile hatte man einfach die Stühle an der Rückseite gestapelt, um mehr Personen stehend in dem Raum unterbringen zu können. Hier trafen wir auch auf unsere Kollegin Jutta Wagner. Jutta war unser guter Geist, der alle Besprechungen organisierte und Protokoll führte. Ihr Organisationstalent war fulminant. Auch sie war eine der Glücklichen, die von der Weihnachtsfeier befreit war. Von KPD selbst wurde sie für diese Schicht zum Polizeiführer vom Dienst der Schifferstadter Kriminalinspektion befördert. Er hätte keine bessere Wahl treffen können. Jutta schien Frau der Lage zu sein. Die komplette Vorderfront inklusive der Fensterscheiben des Sozialraums war mit Flipchartpapier beklebt. Als sie uns erkannte, winkte sie kurz. Mehr Zeit blieb ihr nicht, da mehrere Personen gleichzeitig auf sie einredeten.

      Es war chaotisch. Zwischen den Polizeibeamten der Kripo und unseren Kollegen von der Schutzpolizei wuselten leitende Rettungssanitäter, Feuerwehrleute und Leute von der Katastrophenschutzbehörde herum. Gerhard und ich hatten uns ins hintere Eck verdrückt. Dort gab es einen kleinen Nebenraum mit einer eingerichteten Teeküche. Mein Kollege hätte am liebsten sofort seinen geliebten Sekundentod angerührt, der sich aus annähernd 100 Prozent Kaffeepulver und einer homöopathischen Dosis Wasser zusammensetzte. Zu meinem Glück waren andere Kollegen schneller gewesen und hatten einen normalen Kaffee gekocht.

      »Meine Damen und Herren«, vernahmen wir aus dem Sozialraum die Stimme unserer Jutta. Wir verließen die Küche und sahen, dass inzwischen per Beamer ein Luftbild der Altriper Region auf eine Leinwand übertragen wurde.

      »Bevor wir zu den Einzelheiten kommen«, begann Jutta ohne Begrüßung, »zeige ich Ihnen zunächst die räumlichen Gegebenheiten auf dem Luftbild.« Mit einem Laserpointer deutete sie auf Altrip. »Sie sehen hier den Rhein, der von Süden kommend direkt hinter dem ufernahen linksrheinischen Altrip um 90 Grad nach Westen abknickt. Altrip ist über zwei Kreisstraßen zu erreichen. Einmal ist es die Kreisstraße 7 von Ludwigshafen, die in West-Ost-Richtung verläuft, zum anderen ist es die Kreisstraße 13, die vom südlich gelegenen Waldsee nördlich nach Altrip führt. Beide Straßen verlaufen mehr oder weniger parallel zum Rhein.«

      Unsere Kollegin fuhr die Kreisstraßen mit ihrem Laserpointer nach. Das ganze Gebiet hatte etwa die Ausmaße eines Quadrates mit sechs Kilometer Kantenlänge. Nördlich und östlich bildete der Rhein die Grenze, im Süden lag Waldsee, im Westen Neuhofen und im Nordwesten der Ludwigshafener Stadtteil Rheingönheim. Das Ganze war ein großes Naturschutzgebiet, zumindest wenn man die hohe Besiedlungsdichte der Rheinebene als Maßstab berücksichtigte.

      »Auf halber Strecke zwischen Waldsee und Altrip befindet sich der Campingplatz ›Auf der Au‹. Er liegt fast komplett westlich der K13. Östlich der K13, also auf der anderen Straßenseite, befinden sich ein paar weitere Parzellen sowie der einen Kilometer lange Marx’sche Weiher. Dieser Weiher ist im Osten durch einen Deich vom Otterstadter Altrhein beziehungsweise dem Rhein getrennt.«

      Selbst von hinten konnten wir gut erkennen, dass der Otterstadter Altrheinarm just an dieser Stelle in den Rhein mündete.

      Jutta sprach weiter. »Dieser Deich ist an drei Stellen gebrochen. Das Rheinwasser strömt seit etwa einer Stunde direkt in das Gebiet des Marx’schen Weihers. Das Tragische dabei ist Folgendes: Durch Druckwasser hat der oberirdisch autarke Weiher nach ein paar Tagen annähernd den gleichen Wasserstand wie der Rhein. Aus diesem Grund sind seit drei Wochen die etwa 100 Campingplätze rund um den Marx’schen Weiher geräumt. Doch das reicht nicht mehr. Die K13, die den Marx’schen Weiher von der großen Campingplatzanlage trennt, liegt geringfügig tiefer als der Deich und ist in der Stabilität nicht mit einem solchen vergleichbar. Das bedeutet, bedingt durch den plötzlichen Wasserdruck, ist jederzeit damit zu rechnen, dass der Campingplatz mit seinen 3.600 Parzellen überschwemmt wird. Unsere erste Aufgabe ist daher, die Anlage zu evakuieren. Wir rechnen zu dieser Jahreszeit mit höchstens 1.000 Bewohnern. Allerdings werden einige dieser Zeitgenossen und auch die, die gerade nicht dort wohnen, versuchen, ihre Campingwagen in Sicherheit zu bringen. Sie werden unseren Rettungskräften die Evakuierungswege verstopfen. Es ist folglich mit aggressivem Verhalten zu rechnen. Ein Notlager für die Camper wird zurzeit in der Sommerfesthalle Waldsee errichtet, die technische Einsatzleitung wird bei uns in Schifferstadt installiert. Der Landrat als erster Ansprechpartner für Katastrophen-Notfälle hat dafür grünes Licht gegeben. Funk für alle beteiligten Dienste wird in einer Stunde zur Verfügung stehen, die Relais werden gerade geschaltet. Von der Situation an den Deichbruchstellen liegen uns keine verwertbaren Informationen vor. Ob es Verletzte gibt, wissen wir auch noch nicht. Es ist bei den momentanen Licht- und Wetterverhältnissen sehr schwierig, an die betreffenden Stellen zu kommen.«

      Jutta hatte die Situation im Griff. Fast so, als hätte sie Wochen Zeit gehabt, alles zu planen. Nachdem sämtliche Schritte für die Evakuierung besprochen waren, strömten die operativen Einsatzleiter der verschiedenen Organisationen zu ihren Einsatzorten und den dort wartenden Mitarbeitern in das Katastrophengebiet. Es waren jetzt noch etwa 20 Personen anwesend, für die in aller Eile Schreibtische, Computer und weitere Hilfsmittel angefahren wurden. Für Katastrophenfälle wurden in fast jedem Landkreis für die zentrale Kommunikation und Abstimmung die entsprechenden Geräte und Utensilien bereitgehalten. Da die Lagerung sowie weitere Details dieser vorbeugenden Maßnahme als VS-nfD, also als ›Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch‹, galten, darf ich die Einzelheiten nicht näher beschreiben.

      Als stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalpolizei und aufgrund der Tatsache, dass KPD mutmaßlich noch weinend vor seinem Buffet in dem Restaurant stand, wäre es meine Aufgabe gewesen, die Kollegen zu koordinieren und in den Kampf mit den Campern zu schicken. Auch wenn für diese Dinge normalerweise die Schutzpolizei zuständig war, in solchen Notsituationen galt die Trennung als aufgehoben. Jeder Mann und auch jede Frau konnte gebraucht werden.

      Ich kann meine Kollegin Jutta nicht häufig genug loben. Trotz des unsäglichen Stresses, den sie in der letzten Stunde erlitten hatte, kam sie lächelnd auf mich zu. »Ich denke, dir ist es nicht unangenehm, dass ich Jürgen beauftragt habe, die Koordination mit uns und der Schutzpolizei zu regeln. Du kannst folglich direkt mit Gerhard losfahren und dir ein Bild von der Lage vor Ort machen. Es wäre gut, wenn ihr beide euch zu den Stellen der Deichbrüche begeben könntet, wir haben zur Stunde immer noch kein klares Bild, wie es dort aussieht. Der Bagger, der als Erstes losgeschickt wurde, ist im Schlamm stecken geblieben. Das THW ist unterwegs, um das Gebiet auszuleuchten. Leider ist die Funkverbindung abgebrochen. Irgendwie scheint dort der Wurm drin zu sein.«

      Gerhard und ich machten uns auf den Weg. Wir fuhren direkt in den Weltuntergang hinein. Zu dem Graupelregen war inzwischen ein ziemlich starker Wind gekommen. Das Mondlicht hatte nicht den Hauch einer Chance. Waldsee war wie ausgestorben. Das einzige Lebenszeichen waren die Glockenschläge einer Kirche, die martialisch verstärkt durch die Dunkelheit bellten. Am Ortsausgang wurde es plötzlich hell. Das Technische Hilfswerk hatte schnell reagiert und auf dem großen Parkplatz vor der Sommerfesthalle eine Flutlichtanlage installiert. Wir fuhren ohne anzuhalten weiter. Ein paar Meter weiter war die Straße gesperrt. Gerhard ließ seine Scheibe herunter. Bevor er etwas sagen konnte, wurde er bereits angeschnauzt: »Können Sie nicht lesen? Die Straße ist gesperrt. Sie dürfen hier nicht weiter.«

      Dem Kollegen von der Schutzpolizei war deutlich seine Frustration anzumerken, bei diesem Wetter auf Posten stehen zu müssen. Wahrscheinlich musste er alle paar Minuten Camper zum Umdrehen bewegen, die noch schnell ihren Wagen von der Parzelle retten wollten. Gerhard zeigte ihm den Dienstausweis und der Kollege von der Straßensperre ließ uns passieren.

      Die kurvenreiche Strecke war nicht angenehm zu befahren. Als wir in die Nähe des Campingplatzes kamen, ließ der Graupel etwas nach. Dadurch erhöhte sich die Sichtweite auf mindestens 50 Meter.

      »Halt an«, sagte ich hastig zu Gerhard. »Schau mal nach links, da bewegt sich etwas.«


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