Im Geheimnis geborgen. Michael RosenbergerЧитать онлайн книгу.
einer muslimischen Gebetszeit, nötigt ihnen das nachdenkliche und ehrfürchtige Stille ab. Das Gebet beeindruckt und fasziniert also auch im aufgeklärten 21. Jh.
Dem trägt zwar eine unübersehbare Zahl praktischer Gebetsanleitungen und Gebetssammlungen Rechnung. Aber die Palette wissenschaftlich-theologischer Reflexionen bleibt sehr überschaubar und klein. Eine solche möchte dieses Büchlein im Sinne einer überblicks- haften Einführung liefern. Nach einer Eingrenzung der Fragestellung und einer Einordnung in das »Fach« Theologie der Spiritualität (Kap. 1) soll zunächst die anthropologische Bedeutung des Betens analysiert werden (Kap. 2), ehe sein dezidiert theologischer Gehalt (Kap. 3 und 4) und seine Bedeutung für das Verständnis der Kirche (Kap. 5) in den Blick kommen. Der Schatz jüdischen und christlichen Betens in der Bibel soll wenigstens kurz gestreift werden (Kap. 6), ehe die Aufmerksamkeit sich auf Ausdrucksformen (Kap. 7) und Gestalten (Kap. 8) des Betens richtet. Die seit Jahrhunderten am heißesten umstrittene Frage der Wirksamkeit des Bittgebets (Kap. 9) und die heute überaus dringliche Frage einer zeitgemäßen Gebetspädagogik (Kap. 10) schließen das Büchlein ab.
Als begrifflicher Leitfaden durch die gesamte Abhandlung dient der theologische Begriff des Geheimnisses. Spiritualität und Gebet können wir nicht rational-distanziert analysieren wie das Funktionieren eines Automotors oder das Gesetz der Schwerkraft. Vielmehr braucht es eine ganzheitliche, rationale und emotionale Annäherung an das Phänomen des Betens. Diese aber, so lautet eine uralte Erkenntnis der Theologie, ist nur möglich, wenn wir uns dem Geheimnis des menschlichen Lebens öffnen und dieses zulassen.
Was meint die Rede vom Geheimnis? Die Dogmatische Konstitution »Dei Filius« des I. Vatikanischen Konzils räumt im Jahr 1870 zwar ein, dass »eine gewisse Erkenntnis der Geheimnisse« des Lebens durch die Herstellung von Analogien zu innerweltlichen Vorgängen möglich sei. Doch nie sei das jene Art der Erkenntnis, wie sie üblicherweise der Vernunft zu eigen ist: Ein »Durchschauen der Wahrheiten« (perspicere veritatum) mag im Bereich der Naturwissenschaften möglich sein – im Bereich der Fragen nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen sei es unmöglich. »Denn die göttlichen Geheimnisse … bleiben mit dem Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von einem gewissen Dunkel umhüllt« (DH 3016).
Was das I. Vaticanum von Gott sagt, gilt selbstverständlich ebenso vom Menschen: Jeder Mensch ist und bleibt sich selbst und anderen ein Leben lang ein Geheimnis – sein Leben ist ihm permanent eine Frage, deren letzte Antwort er nicht ergründen kann (Karl Rahner 1967, 192). Der Grund der menschlichen Person ist ein unauslotbarer Abgrund. Damit steht der Mensch aber immer und unausweichlich vor der Frage, ob er sich dem Geheimnis seines Lebens anvertrauen kann oder ob er gegen es ankämpft wie gegen Windmühlenflügel; ob er sich fallen lassen kann und erfährt, dass das Geheimnis in der Lage ist, ihn zu tragen, oder ob er sich ängstlich verkrampft und sich dieser Erfahrung verschließt; ob er im Geheimnis daheim ist und Heimat findet oder ob es ihm fremd und bedrohlich bleibt.
Ein Geheimnis hat – solange es nicht zum angstbesetzten, zerstörerischen Tabu wird, sondern Freiheit, Ehrfurcht und Demut atmet – etwas Bergendes, Schützendes. Im Geheimnis kann ein Mensch daheim sein und Vertrauen in die Gutheit seines Lebens finden. Genau darum geht es wohl verstanden im christlichen Glauben. Der Glaube will beheimaten, bergen, wärmen und behüten. Doch tut er das recht verstanden nicht, indem er Gott und die Welt durchschaut und für alles eine glatte Antwort bietet. Vielmehr nähert er sich scheu und mit größter Vorsicht dem Geheimnis. Im Glauben wird das Geheimnis Gottes und des Lebens größer, nicht kleiner. Aber gerade dadurch immer wunderbarer.
1. Theologie des Gebets und Theologie der Spiritualität
Zur Fragestellung und zum Fach
Ehe man ein Thema darstellt, ist es wichtig, es zu verorten: Wo ist sein (materialer) Platz auf der theologischen Landkarte? Was sind seine Nachbarthemen? Welche Querverbindungen gibt es zu ihnen? Verortung bedeutet aber nicht nur eine Aussage über die material-inhaltliche Ansiedelung eines Themas, sondern auch über die formale Methode seiner Behandlung: Welche theologische Disziplin ist für die gegebene Fragestellung primär gefragt? Von welcher Warte aus wird sie vorrangig betrachtet? Dem soll hier vorab zur konkreten Durchführung nachgegangen werden.
1.1 Die Fragestellung: Was heißt das eigentlich: Beten?
Was heißt das eigentlich: Beten? Was tun Menschen, wenn sie von sich sagen, sie beteten? Dies ist letztlich die analytische Frage nach dem Begriff des Betens: Bedeutet Beten nur, sich selbst und sein Ego zu bespiegeln und die eigenen Gedanken durch die Adressierung an Gott aufzuwerten? Heißt es, die Kommunikation mit anderen Menschen einfach zu introvertieren und ins Innere der eigenen Psyche zu verlegen? Bedeutet Beten sich selbst zu beruhigen und Autosuggestion bzw. autogenes Training betreiben? Oder eher Träumen und sich nach und nach eine Traumwelt aufbauen, die einen den alltäglichen Sorgen entreißt? Ist Beten mithin das Einnehmen einer spirituellen Droge, die einen betäubt und den Alltag leichter ertragen lässt, wie das Karl Marx mit seiner These vom »Opium des Volks«1 nahelegte? Aber selbst wenn das Gebet auch all das ist – ist damit über das Gebet schon alles gesagt? Ist es nur das? Oder kommt noch ein Aspekt dazu, der jenseits all dieser Beschreibungen aus der Distanz der Perspektive des unbeteiligten Beobachters liegt?
Wenn das Gebet durch die Klärung dieser Fragen als Gegenstand klar bestimmt ist und die Mechanismen seiner Genese erhellt sind, ergibt sich eine Folgefrage: Was heißt das nun für das Wie des Betens, seine Zeiten und Orte, seine spezifische Sprache, seine Inhalte, den leiblichen Vollzug? Das ist die normative Frage nach der angemessenen Praxis des Gebets.
Beide Fragen werden in dieser Abhandlung theologisch und damit wissenschaftlich reflektiert. Es geht nicht um einen Exerzitienvortrag oder eine Predigt, auch nicht um einen erbaulichen Impuls für das persönliche geistliche Leben, sondern um eine sorgfältige und zugleich mühsame Reflexion. Die Theologie des Gebets fordert die Anstrengung des Begriffs. Sie muss sauber argumentieren, klar formulieren und präzisieren und im Widerstreit der Argumente pro und contra eine bestimmte Position plausibilisieren. Dabei steht sie im Dialog mit Glaubenden, Andersglaubenden und Nichtglaubenden. Auf der Basis vernünftigen Denkens tritt sie mit ihnen in einen Dialog. Paradoxerweise gibt es im deutschen Sprachraum eine im Curriculum des Theologiestudiums verankerte Pflichtvorlesung mit dem Thema »Theologie des Gebets«, wenn ich es richtig sehe, nur an vier theologischen Fakultäten: an der katholischen Fakultät in Linz sowie an den evangelischen Fakultäten in Bochum, Hamburg und Heidelberg. Selbst an den Päpstlichen Universitäten in Rom ist ein solcher Kurs nicht zu finden. Das gibt zu denken. Denn immerhin sind wir hier am Kern jeder Theologie. So sagt der Mönchsvater Evagrios Pontikos (346 Ibora, Pontos – 399 in den Kellia, Ägypten): »Wenn du Theologe bist, betest du wahrhaftig; wenn du wahrhaftig betest, bist du Theologe«2 (De oratione 60). Gebet ist also das Herz jeder Theologie, ihre Quelle und ihr Ziel. Eine Theologie, die sich nicht am Gebet orientiert und von ihm inspirieren lässt, bleibt seelenlos. Eine Theologie, die nicht auf ein je wahrhaftigeres, redlicheres und lebendigeres Beten zielt, dient zu nichts.