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Wie viel Tier darf's sein?. Michael RosenbergerЧитать онлайн книгу.

Wie viel Tier darf's sein? - Michael Rosenberger


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wissen, was sie kaufen, und kennen die Herkunft ihrer Lebensmittel sehr genau. Dafür sind sie bereit, deutlich mehr Zeit und Geld einzusetzen, als wir es in Deutschland gewohnt sind. Und doch war der Fleischverzehr in all den Jahren meiner Verbundenheit mit ihnen nie ein Thema gewesen. Das hat sich mit einem Schlag gewaltig verändert.

      Mich hat diese Beobachtung sehr bewegt. Denn wenige Tage vor meiner Reise nach Italien hatte ich das Manuskript für dieses Buch abgeschlossen. Ich hatte mich ein halbes Jahr intensiv mit dem Thema einer Ernährung auseinandergesetzt, die auf Tiernutzung ganz oder teilweise verzichtet. Ich hatte darüber hinaus im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren Diskussionen über diese Themen geführt und meinen eigenen Fleischkonsum schon lange auf ein Minimum reduziert. Aber Italien war für mich immer das Land der Slow-Food-Bewegung gewesen, das Land, in dem man deutlich weniger, aber dafür besseres Fleisch isst. Dass sich Vegetarismus und Veganismus jetzt auch in Italien rasend schnell ausbreiten, hatte ich zwar bei den Arbeiten für dieses Buch gelesen und für das Manuskript rezipiert, aber bisher nicht selbst erlebt. Und jetzt sah ich, dass in der kleinen Stadt meiner Freunde innerhalb eines Jahres drei vegane Restaurants eröffnet hatten.

      Vegane und vegetarische Ernährung liegen im Trend. Umso mehr bin ich dankbar, dass Heribert Handwerk und Thomas Häußner vom Echter Verlag mich im Sommer 2015 überzeugten, dieses Buch zu schreiben. Es kommt genau im richtigen Augenblick. Geschrieben habe ich es aber nicht um einer Mode willen, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass dieses Thema uns viel zu geben hat. An ihm können wir ablesen, wer wir sind und wie wir uns in einer Welt verorten, die wir Glaubenden als Schöpfung Gottes betrachten. In diesem Sinne wünsche ich allen, ob sie vegan, vegetarisch oder Fleisch essend leben, viele anregende Gedanken und den Mut, alte Gewohnheiten in Frage zu stellen.

       Michael Rosenberger

      In der Fastenzeit 2016

      TEIL I:

       Worum es in diesem Buch geht

       (Einleitung)

      Die Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend war in den Industrieländern eine Wende der gesellschaftlichen Wahrnehmung menschlicher Ernährung. Vor dem Jahr 2000 wurde die ethische Dimension menschlicher Ernährung fast vollständig ausgeblendet. Danach stand sie mit einem Schlag im Rampenlicht. Filme im Kino und Dokumentationssendungen im Fernsehen schossen wie Pilze aus dem Boden. Bewegungen wie Slow Food (Gründung in Italien bereits 1986 – ein weitblickender Vorreiter!) und Nichtregierungsorganisationen wie Food Watch (Gründung in Deutschland 2002) fanden immer mehr Zulauf. Wissenschaftliche Netzwerke beschäftigten sich intensiv mit ethischen Fragen der Ernährung. „Food Ethics“ ist zwischen 2000 und 2010 zum feststehenden Begriff geworden, gemeinsam mit „Food Politics“, „Food Law“ und „Food Philosophy“. 1999 wurde sogar eine wissenschaftliche „European Society for Agricultural and Food Ethics“ gegründet.

      Nach einem, vielleicht sogar zwei Jahrhunderten der industriegetriebenen Beschleunigung und Verbilligung des Lebensmittelanbaus und der Lebensmittelverarbeitung deutet sich also eine Umkehr an. Noch findet sie weitgehend in Appellen und Diskussionen statt. Gelebt wird sie höchstens ansatzweise und von einer kleinen Minderheit. Da hat sich der faire Handel eine kleine Nische des Lebensmittelmarkts erobert. Da kaufen manche Menschen konsequent ökologische Produkte. Da wächst die Zahl jener, die auf Fleisch verzichten. Noch ist es ein Minderheitenprogramm. Aber es hat einen Trend in Bewegung gesetzt, der unbeirrt weitergeht und -wächst.

      Freilich gibt es auch den Gegentrend, der alle genannten Fortschritte konterkariert und ihre positiven Effekte zunichtemacht: Die überwältigende Mehrheit der KonsumentInnen zahlt auch weiterhin keine fairen Preise, sondern heizt durch ihr wählerisches Einkaufsverhalten einen Preiskampf an, wie er in keinem anderen Segment des Einzelhandels stattfindet. Dem Großteil der Bevölkerung sind Öko- und Bio-Produkte nur so lange erstrebenswert, wie sie nicht mehr kosten als konventionelle Lebensmittel. Und eine Mehrheit der Menschen isst nicht weniger, sondern mehr Fleisch, so dass der durchschnittliche Fleischkonsum in Deutschland unter dem Strich seit Jahren unverändert viel zu hoch ist.

      Unter den genannten Aspekten einer ethisch reflektierten Ernährungspraxis wird die Frage des Fleischkonsums und des Verzehrs tierischer Produkte besonders heftig debattiert. Am Leiden der Tiere in der „Intensivtierhaltung“ erkennt der Laie am schnellsten, dass die vorherrschende Erzeugung der Lebensmittel viele Rücksichtslosigkeiten beinhaltet. Die Tiere sind schwächer und wehrloser als die schwächsten Menschen im landwirtschaftlichen System. Mit ihnen wird noch härter verfahren als mit SaisonarbeiterInnen während der Ernte und osteuropäischen LeiharbeiterInnen in den Großschlachtereien. Zugleich sind die Tiere leichter wahrnehmbar als die sogenannten Umweltmedien Boden, Luft und Wasser, die die Intensivlandwirtschaft ebenfalls massiv schädigt, und als die Biodiversität, die Lebensvielfalt, die sie stark bedroht.

      Den Tieren sieht man das Unrecht sehr unmittelbar an, das ihnen im heutigen System unserer Lebensmittelerzeugung geschieht. Die Frage des Fleischkonsums und des Verzehrs tierischer Produkte soll daher im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs stehen. Wie emotional sie mitunter debattiert wird, wird man da und dort in meinen Ausführungen erahnen. Viele LeserInnen werden das aber schon am eigenen Leib verspürt haben. Denn die einen, die auf den Konsum tierischer Produkte oder wenigstens auf Fleisch verzichten, bringen eine Menge persönliches Engagement ein. Sie verändern ihren Lebensstil in grundlegender Weise. Genau davor schrecken die anderen zurück und fühlen sich in ihren bisherigen Gewohnheiten bedroht.

      Zwischen VeganerInnen auf der einen Seite und Fleischbergen auf der anderen steht also der nachdenkliche, noch nicht entschlossene Mensch und fragt sich, welche Seite Recht hat. Wohin führt der ethisch verantwortbare Weg unseres Umgangs mit den Tieren? Sollen wir weitermachen wie bisher? Müssen wir auf die Nutzung der Tiere in Zukunft gänzlich verzichten? Oder gibt es einen Weg der Mitte, der einschneidende Reformen in der Tierhaltung fordert, aber die vegane Ernährungsrevolution nicht für alle durchsetzen will?

      Eine umfassende Ethik der Ernährung ist ein vielschichtiges und komplexes Ganzes. Das Christentum hat sich daher in seiner Lehre wie vermutlich alle großen Religionen auf einige Aspekte der Ernährungsethik konzentriert und diese durch die 2000 Jahre seiner Geschichte immer hochgehalten. Dazu gehören die Fragen maßvollen Essens und Trinkens, der wechselnden Zeiten von Fasten und Festen, der Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Armen, der Solidarität mit den Hungernden. Von Anfang an verdrängt wurden hingegen Fragen des leiblichen Wohlergehens, der Lust und des Genusses von Essen und Trinken. Und schrittweise zurückgedrängt, wenn auch nie ganz vergessen, wurden Fragen des Fleischkonsums, die in der Anfangszeit des Christentums, wie wir noch sehen werden, eine prominente Rolle spielten, nach und nach aber an Bedeutung verloren.

      Wie verhält sich das Christentum zum Fleischkonsum? Ist eine vegetarische oder gar vegane Ernährung christliche Pflicht? Ist sie umgekehrt vielleicht verwerflich, weil sie als alternative Heilslehre missverstanden werden kann? Gibt es womöglich, auch das wäre denkbar, eine völlige ethische Neutralität des christlichen Glaubens gegenüber Fleischverzehr und Fleischverzicht? Das ist die leitende Fragestellung dieses Buches. Auffallend ist dabei, dass das Christentum im kultischen Bereich nur vegane Lebensmittel verwendet: Brot, Wein und Pflanzenöl. Tierische Produkte haben (außer für die Armenspeisung) keinen Zugang zum Altar. Wir werden noch sehen, dass das eine Weichenstellung mit weitreichenden Folgen ist. Sie vollzieht sich im deutlichen Unterschied zum Judentum, das zur

      Zeit Jesu im Jerusalemer Tempel zahllose Tiere opfert und auch nach dessen Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. zumindest im Ritual des Paschamahls bis heute Lammfleisch und ein Ei verwendet.

      Vegetarismus und Veganismus haben mittlerweile eine größere Bandbreite an Selbstverständnissen entwickelt. Bis vor wenigen Jahren praktizierten VegetarierInnen und VeganerInnen ihre Ernährungsweise praktisch immer im Kontext einer Weltanschauung. Sie drückten damit tiefgreifende Wertorientierungen aus. Im Zeitalter der Selbstdarstellung hat sich das gelockert. Heute sind Vegetarismus und Veganismus für manche Menschen Lifestyle statt Weltanschauung, Konvenienz statt Ethik, Selbstdarstellung statt Altruismus, Option statt Mission. Aber selbst dann geht es bei der Wahl einer


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