Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm VossenkuhlЧитать онлайн книгу.
sei »die wirkliche und wirksame Form kollektiver Sittlichkeit … das gesamtkulturelle Ethos« (Bd. 2, 123). Das ist ein Ganzes, das weit über die guten Sitten, aus denen Kategorische Imperative werden können, hinausgeht. Es schließt alle Formen der Praxis einer Kultur und Gesellschaft ein. Stekeler nennt den Geist auch das »wirkliche gemeinsame Ethos« (135). In eben diesem Punkt stimmt mein Verständnis von ›Sittlichkeit‹ mit demjenigen Hegels überein. Dann trennen sich unsere Wege. Da das gemeinsame Ethos abhängig von dem kulturellen und sozialen Raum ist, in dem Menschen leben, kann ein Ethos konfliktreich auf ein anderes treffen. Hegel hat dies nicht erwogen, aber auch nicht ausgeschlossen. Kant bietet für solche Konflikte keinen theoretischen Rahmen und keinen moralischen Raum an.
In der Enzyklopädie schließlich versteht Hegel die Sittlichkeit nach Recht und Moralität als dritte, höchste und letzte Stufe des objektiven Geistes und als dessen »Vollendung« (1991, § 513, 402). Es ist eine Vollendung im Staat. Demselben Stufenplan von Recht, Moralität und Sittlichkeit folgt Hegel auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (2017). Die Sittlichkeit erstarrt in einem System. Es gibt aber weiterhin die Sitten als Gewohnheiten, als »Dasein des freien Willens« (1991, § 486, 390). Sie werden von Hegel aber integriert in das geltende, symmetrische Verhältnis zwischen Pflichten und Rechten, das in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat hierarchisch geordnet ist. Eine durch kulturelle Konflikte erzwungene, dynamische Veränderung der Sitten wird undenkbar, kann zumindest in Hegels Theorie nicht nachvollzogen werden. Konflikte zwischen kulturell und sozial bedingten Auffassungen von Sittlichkeit sind zumindest in seiner Theorie ausgeschlossen. Dieser im Staat erstarrten Auffassung von ›Sittlichkeit‹ schließe ich mich nicht an. Hegels Gedanke, dass die Sittlichkeit eine enge Bindung zwischen dem Recht als dem Ausdruck des freien Willens und den Pflichten als Ausdruck der Sitten einschießt, stimme ich dagegen nachdrücklich zu (Enzyklopädie, § 486). Konkret bedeutet dies, dass die Menschenrechte auch mit Pflichten verbunden sein sollten. Wer diese Rechte beansprucht, sollte auch die Pflichten erkennen, die mit ihrer Pflege verbunden sind.
SITTEN
Das Wort »Ethik« ist gebräuchlich geworden und überall gegenwärtig. Häufig wird es in Bindestrich-Verbindungen mit Medizin, Politik, Wirtschaft, Umwelt, Bio- oder Wissenschaft gebraucht. Es ist von ›Bereichsethiken‹ die Rede, so als hätte jeder der vielen eben genannten Bereiche eine eigene Ethik. Darüber hinaus gibt es noch die Allgemeine Ethik, von der aber unklar ist, in welchem Verhältnis sie zu jenen Bereichen steht, und was das Allgemeine daran ist. In der Allgemeinen Ethik gibt es die großen Alternativen der Tugendethik, der Sollens-Ethik (Deontologie) und des Utilitarismus (Konsequentialismus), die aber selbst wieder einige Varianten haben. Schließlich gibt es noch die Meta-Ethik, in der es darum geht, wovon die Ethik eigentlich handelt. Um es kurz zu machen, die Ethik gibt es nicht, sondern nur die vielen Verbindungen mit diesem Wort und entsprechend viele Bedeutungen, die einander teilweise widersprechen. Es gibt keine gemeinsame Bedeutung, aber das gemeinsame Ziel, dem Handeln der Menschen eine zuverlässige und richtige Orientierung und Begründung zu geben.
In jeder Inflation wird etwas entwertet, was davor mehr wert war. Ist das beim inflationären Gebrauch des Wortes ›Ethik‹ ähnlich? War das, was mit dem Wort gemeint war, einmal mehr wert als heute? War es das Gute, das es nun nicht mehr gibt? Das Wort ›Ethik‹ stammt aus dem Griechischen und ist ein Kunstwort. Es kann von dem griechischen Wort ethos mit Epsilon am Anfang (Sitte, Brauch) abgeleitet werden. Es kann aber auch vom griechischen Wort êthos mit Eta am Anfang (Sitte, Manieren, Charakter) abgeleitet werden. Die Bedeutung des Wortes ist in beiden Fällen das gewöhnliche Verhalten, das, was sich gehört, was üblich ist, was man tut und nicht tut.
Hegel sagt in der Phänomenologie des Geistes, die gesunde Vernunft wisse unmittelbar, »was recht und gut« ist (278). So verstehe auch ich das sittliche Bewusstsein. Es ist dabei zunächst noch unbestimmt, wie vernünftig dieses Bewusstsein ist. Klar ist aber, dass die Menschen in diesem Bewusstsein unmittelbar urteilen. Sie gebrauchen dabei, wie Pirmin Stekeler in seinem Kommentar erklärt, genau die »Kriterien des Rechten und Guten«, die »ihre eigenen sind« (Bd. 1, 1187). Die kulturelle Bindung des sittlichen Bewusstseins ist offensichtlich, weil es kein anderes Bewusstsein als das kulturell geprägte gibt, das uns Menschen unmittelbar für unsere Urteile zur Verfügung steht.
Das häufig gebrauchte Wort ›Moral‹ leitet sich vom lateinischen Wort mores (Sitten) ab. Sitten machen das Verhalten da, wo sie gepflegt werden, zuverlässig und erwartbar. Wenn wir davon sprechen, dass ein Verhalten ›normal‹ ist, meinen wir, es entspricht den Sitten, dem Üblichen. Das Urteil ›Das ist völlig unüblich‹ bedeutet in manchen Kulturen so viel wie ›Es ist schlecht‹. Das Sittliche ist das Normale, das, wozu man erzogen wurde und was sich gehört. Wir lernen es als Kinder und müssen später selten lange nachdenken, was sich gehört. Niemand braucht dafür eine Theorie. Wenn wir Glück haben, lernen wir so, ›gut‹ und ›schlecht‹ zu unterscheiden. Wenn wir dieses Glück nicht haben, hilft uns auch keine Theorie.
Das Selbstverständliche hier oder anderswo ist offensichtlich nicht das, was sich in allen Räumen der Welt so gehört. Das Gute hier ist nicht unbedingt das Gute anderswo, es kann sogar anderswo etwas Schlechtes sein und umgekehrt. Sitten haben ihre Räume. Sie sind regional verschieden, abhängig von Sprachen, Kulturen und Religionen, abhängig davon, zu welcher Gesellschaft man gehört, welche Religion man hat oder hatte, nicht mehr hat oder nie hatte. Wenn man nie etwas hatte, was andere haben, hat man dafür etwas anderes als Ersatz. Der Wert, den Sitten haben, wird regional und von den Eigenen geschätzt, von den Anderen aber eher abgelehnt. Es kommt darauf an, wozu man gehört.
Wenn wir uns das sittliche Verhalten anschauen, erkennen wir seine Verbindung mit bestimmten Räumen, mit Gegenden. Von ›moralischen Räumen‹ zu sprechen, ist nicht metaphorisch. Sitten sind immer irgendwo beheimatet. Solange wir uns diese Verbindung anschauen, sind wir nur Beobachter, gehören wir nicht zu den Orten, die wir beobachten. Wir bewegen uns zwischen den Regionen, und dieses ›Zwischen‹ ist typisch für eine Reise. Die Rede von einer Reise ist deswegen auch nicht metaphorisch, sondern entspricht der Bewegungsart unseres Denkens zwischen dem Einzelnen und Allgemeinen, zwischen Sitten und Sittlichkeit, zwischen Sitten und Ethik. Die Sorge ist eine besondere Art der Bewegung, weil sie uns an Orte führen kann, mit denen wir nicht vertraut sind.
Nur als Reisende unterwegs zwischen den moralischen Räumen erkennen wir den Unterschied, den Menschen regional zwischen den Eigenen und den Anderen, die fremd oder bekannt sind, machen. Dieser Unterschied ist einerseits normal, weil die Menschen ihn gewöhnlich mehr oder weniger bewusst machen. Andererseits ist der Unterschied eine Quelle von Unrecht, Diskriminierung und Ausgrenzung. Es mag, wie manche glauben, ein biologisch geprägter, quasi natürlicher Unterschied sein. Sollte er dies sein, erklärt es seine Existenz, entschuldigt oder begründet diskriminierendes Verhalten aber nicht.
Es gibt auch überregionale Sitten jenseits der eigenen und fremden wie Gastfreundschaft, Fleiß, Hilfsbereitschaft, Ehrerbietung den Eltern und Vorfahren gegenüber, Höflichkeit und Sauberkeit. Diese Sitten werden in vielen, vielleicht nicht in allen Kulturen geschätzt und praktiziert. Die Scham und die Ehre gibt es in allen Kulturen, aber auch Sitten des Essens, des Trinkens, der Kleidung, des Grüßens, des Umgangs zwischen Männern und Frauen. Diese Sitten sind nicht in allen Kulturen gleich. Was die einen für sittlich gut halten, kann für die anderen schlecht sein. Häufig wird die regionale Grenze zwischen sittlich gut und schlecht von Religionen und der Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Ethnie, einer Sprache bestimmt.
Sitten haben keine globale, über ihren Kulturraum hinausreichende universale Bedeutung. Die Ehrerbietung, welche die Menschen z. B. in Japan ihrem Kaiser gegenüber empfinden, wird uns erst bewusst und verständlich, wenn wir etwas darüber lesen, etwa in Karl Löwiths (1897 – 1973) kleinem Buch Der japanische Geist (1943). Der japanische Patriotismus, die Treue zum Kaiser und die Ehrerbietung gegenüber den eigenen Vorfahren ist uns fremd, weil wir diese Art von sittlichem Gefühl nicht (mehr) kennen. Löwith macht dies am Beispiel eines Vergleichs deutlich. Während wir es als eine Pflicht betrachten, die Wahrheit zu sagen, halten dies die Menschen in Japan für eine Unhöflichkeit, weil sie zum Gesichtsverlust und damit zum