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Diagnose: Mingle. Martina Leibovici-MühlbergerЧитать онлайн книгу.

Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger


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taucht eine graue Granitwand vor Ralf auf. Der Zusammenstoß ist unvermeidbar, und schweißgebadet wacht er an dieser Stelle des Traums auf. »Jedesmal bin ich dann vollkommen erschöpft und total fertig, brauche eine gute Stunde, um mich wieder emotional zu orientieren und dieses Todesgefühl abschütteln zu können«, berichtet er. In den meisten Nächten, in denen dieser Albtraum auftritt, ist danach an weiteren Schlaf nicht mehr zu denken. Ich sehe ihn mir genauer an. Eine elegante Erscheinung, sportlich, dynamisch, natürlich gebräunt und strahlendes Lächeln, nackte Füße in Wildledermokasins der teuersten Sorte, genauso wie das restliche Outfit, in dem ein gut trainierter und sorgfältig gepflegter Body steckt. In der Bewegung wirkt er etwas steif, manieriert könnte ich es mit weniger Gutmütigkeit, geckenhaft mit Spottlust nennen. In seinem Tagesablauf ist er gut durchbeschäftigt. Die zwei Stunden Bodybuilden habe ich ihm schon vorweg angesehen, sonst Zeitungen und News zur Orientierung, ein wenig tägliche Verfolgung von Aktienkursen, Mittagessen mit dem einen oder anderen Freund oder manchmal mit seinem Sohn. Ausstellungen, Einladungen Folge leisten oder selber in kleiner Runde einladen, sonstige Veranstaltungen, eine Aufsichtsratssache, seine Hobbys und nicht zu vergessen die »Hasenjagd«. Attraktiv, jung und unkompliziert müssen sie sein, um in Ralfs Beuteschema zu passen. Er ist großzügig aber lässt sich auf nichts wirklich Festes mehr ein, wie er mit seiner sehr wohlklingenden Stimme ausführt. Seinen Panzer wird keine mehr zu durchdringen vermögen. Auch das stellt er sogleich klar. Das Lehrgeld seiner Ehe war ein bitterer Nachgeschmack. »Zwei Jahre Glück habe ich mit nachfolgend 20 Jahren Verfolgung und dem Verlust meiner Kinder bezahlt«, beschreibt er mir seine Lebenserfahrung zum Thema Liebesbeziehungen. Seine Bemühungen um die Kinder waren fruchtlos und teuer. Das zu einer Zeit, wo er das Geld dringend in der Firma gebraucht hätte. Als Ergebnis vermag er heute nur eine emotional sehr distanzierte Beziehung zu seinem Sohn vorzuweisen, seine Tochter verweigere, von der Mutter indoktriniert, nach wie vor jede Kontaktnahme. Eine zweite tiefere Beziehung, ein paar Jahre nach der ersten Scheidung, ist an den parallel laufenden Kämpfen mit der Ex-Frau gescheitert. Leidenschaft lässt er seit Jahren nur mehr bei seinen Hobbys zu. Golfen, Old-Timer sammeln und Rennen fahren. Er hat sich dazu auch eine eigene Werkstatt eingerichtet, in der er stundenlang herumschraubt, poliert, adjustiert oder Teile erneuert. Früher waren es auch Motorräder, aber mit denen hat er wegen des Albtraums aufgehört.

      Doch Ralf ist nicht mein einziger Patient, der diesen Weg der »Gefühlsvertaubung« gegenüber zwischenmenschlichen Liebesbeziehungen für sich als Lebensstrategie gewählt hat.

      Da gibt es Klaus, der seine Frau während der Schwangerschaft, in der sie wegen vorzeitiger Wehen nicht mit ihm schlafen kann, damit konfrontiert, seinen Hormonspiegel mit Unterstützung einer früheren Freundin abbauen zu müssen. Und der meint, nur auf diese Weise über genügend Energie zu verfügen, um sich auf ihr gemeinsames Kind unbeeinträchtigt freuen zu können.

      Oder auch die Volksschuldirektorin Elisabeth, die nun, am Ende ihrer 40er, endlich mit Hilfe von Internetforen und einer Freundinnenschar einen klaren Katalog all jener Bedürfnisse angelegt hat, die ihr zukünftiger Traumpartner befriedigen muss. Den kann sie heute im Schlaf und kompromisslos herunterbeten. Die durch entsprechende Plattformen herangeschafften Kandidaten werden rigoros, wenngleich in den letzten beiden Jahren ergebnislos, vermessen. Ein frustrierendes Unterfangen, das ihren abendlichen Alkoholkonsum immer mehr verstärkt hat.

      Hartmuth, ein habilitierter Neurologe, in dessen Hände ich meinen Schädel mit blindem Vertrauen legen würde, hat es scheinbar viel besser gemacht. Jedenfalls hat er viele Neider wegen seiner 25 Jahre jüngeren Frau, die er von einer Urlaubsreise aus Rumänien mitgebracht hat. In äußerst bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ist sie das sexuelle Haushaltspaket seiner mittleren und späteren Jahre. Sie verbindet den Vorzug von Unterlegenheit mit jenem mangelnder Sprachkenntnisse. Sogar einen kleinen Sohn hat er sich auf diese Weise noch anschaffen können, wie er es mir gegenüber nennt. Damit ist auch für die Beschäftigung der bildhübschen jungen Frau aus dem nordöstlichsten und ärmsten Teil von Rumänien gesorgt. Mehr ist da nicht, keine tieferen Gefühle, wehrt er meine Nachfrage fast entrüstet ab. Seine wirkliche Leidenschaft gilt seiner Karriere und Motorradtouren im wilden Gelände, die früher gut gegen seine Depressionen gewirkt haben.

      Die erfolgreiche Versicherungsmaklerin Regina wiederum setzt auf die Lebensfreundschaftsbeziehung statt auf eine Liebesbeziehung zu einem Mann. Mit Karl, einem regionalen Immobilienmakler, den sie noch aus Jugendjahren kennt, hat sie den idealen Konterpart gefunden. Sie teilt viel an gemeinsamer Freizeitaktivität, beruflichem Austausch und wechselseitigem Beistand in den unterschiedlichsten Lebensanliegen mit ihm. Aber sicher nicht Sexualität und Liebe. Alles, was im Leben der 52-Jährigen über Freundschaft hinausgehen könnte, ist tabu. »Dafür bin ich einfach zu alt«, hat sie entschieden. Bei mir auf der Couch liegt sie wegen ihrer zwanghaften Hypochondrie.

      Nun ließe sich an dieser Stelle sicher gut einwenden, dass es sich hier um ein altersgruppenspezifisches Phänomen handeln könnte. Die mittleren Lebensjahre eben, mit ihren Stromschnellen, die die schon viel weiter oben im Strömungsverlauf angelegten Schwierigkeiten zu Tage treten lassen. Eine Überlegung, die auch für mich beim ersten Hinsehen großen Charme ausstrahlte. Handelte es sich hier etwa nur um das Problem einer kleinen, speziellen Randgruppe von Patienten, die ihre Midlife-Crisis nicht erfolgreich zu überwinden gewusst hatte und so in das Mingle-Schema der totalen Unverbindlichkeit gerutscht war? Die schon aus der Kindheit mit schlechten Bewältigungsstrategien ausgerüstet und eventuell bereits traumatisiert nun psychisch oder psychosomatisch auffällig wurde? Und die als vielleicht neu zu beschreibendes »Gruppensymptom« die Fähigkeit von tiefer emotionaler Bezugsfähigkeit auf ein Partnergegenüber vermissen ließ? War es eventuell auch ein durch die Emanzipationsbewegung erklärbares Generationsproblem der heute 45 bis 60-Jährigen? Jener Frauen also, die schon mit dem vollständigen Konzept, was es bedeutet, eine emanzipierte Frau zu sein, in ihre jungen Frauen- und Beziehungsjahre gegangen waren, nur um auf jene weiterhin in Sachen Emanzipation verschlafen sozialisierten jungen Männer zu treffen, die sich im Zweifelsfall doch besser am patriarchalen Rollenmodell festhielten? Stand hier die Wiege des Mingle-Daseins? Da hatte es sicher genügend Möglichkeit gegeben, einander in Rollenunverträglichkeit ausgiebig an die Kehle zu gehen und Blessuren zu schlagen. Die zarter Besaiteten landeten dann eben auf der Couch und gaben in Sachen Liebe in der einen oder anderen Weise auf.

      Wie sah es dagegen bei meinen jüngeren Patienten, also jenen »Millennials« aus, die allesamt ein Geburtsdatum jenseits von 1980 aufweisen? Welche Bedeutung und welchen Stellenwert in ihrer Selbstkonstruktion nahmen Beziehungen für sie ein? Diese Frage beschäftigte mich als nächstes.

      Nina ist irgendwo im Umfeld von Linz aufgewachsen. Ihre Mutter ist Volksschuldirektorin, ihr Vater Jurist in einem großen Unternehmen. Nina besucht das lokale Gymnasium, genauso wie ihre zwei Jahre ältere Schwester. Die Beziehung der Eltern ist schwierig und konfliktreich. Der Vater unterhält über Jahre eine Beziehung mit einer Arbeitskollegin, die Familie weiß davon. Die Eltern können sich weder voneinander trennen, noch für den permanent schwelenden Konflikt eine Lösung finden. Irgendwann gibt es einen kleinen Halbbruder für Nina und ihre Schwester und eine Depression für die Mutter, doch an der Grundkonstellation ändert sich nichts. Nina empfindet für beide Eltern nur Verachtung. Als sie am Milleniumssilvester ihren 18. Geburtstag gefeiert und im darauffolgenden Jahr die Matura hinter sich gebracht hat, geht sie nach Wien und studiert Betriebswirtschaft. Ihre eigenen Beziehungen sind flüchtig, explorativ, situationsbezogen, wie sie es nennt. Ihr Studium ist ihr wichtig, und nach einem ersten Job bei einem Handynetzprovider winkt nach fünf Jahren ein Angebot in London, das sie begeistert annimmt. Dort wird ein Arbeitskollege aus Malaysia ihr ständiger Begleiter, mit dem sie, auch um die hohen Londoner Mietkosten teilen zu können, eine Beziehung eingeht. Doch das junge Glück ist von starken kulturellen Spannungen und Revierkämpfen überschattet. Und in der Karriere zurückstehen, um den Beziehungsraum gestalten zu können, will keiner wirklich. Nina leidet unter den Spannungen der sexuellen Wohngemeinschaft mehr als ihr Partner. Immer häufiger verschafft sie sich mit Shopping-Touren Stressabbau und Glücksmomente. Die Situation wird zunehmend unerträglich. Turbulenzen in der Firma führen letztendlich dazu, dass sie vor knapp einem Jahr zurück nach Österreich kommt. Jetzt lebt sie alleine und ist wegen ihrer Kaufsucht bei mir in Behandlung. Männer lässt sie aus Überzeugung nur mehr als One-Night-Stand in ihrem Leben zu.

      Mark hat dagegen


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