Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
lassen sich bei den Begründern der Gestalttherapie entdecken? Um den Kontrast zu schärfen, werde ich diese in einem zweiten Schritt mit der modernen allgemeinen Entwicklungspsychologie vergleichen. Die durchgängige Frage dieser Untersuchung wird also sein, welche entwicklungstheoretischen Motive und Theorien der Gestaltansatz enthält, wie diese weiterentwickelt wurden und wie sie im Vergleich zu aktuellen allgemeinen Entwicklungspsychologie positioniert sind.
Zu Beginn werden fünf Leitsätze der modernen Entwicklungspsychologie formuliert. Es folgt eine Standortbestimmung der gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie. Im dritten Teil werden dann die entwicklungstheoretischen Motive des Gestaltansatzes den Leitsätzen der modernen Entwicklungspsychologie gegenübergestellt.
Leitsätze der modernen Entwicklungspsychologie
Die Frage nach der Entwicklung des Menschen ist nicht neu. Schon Ovid beschäftigte sich in seinen Metamorphosen mit der Frage, wie sich der Mensch im Laufe seines Lebens entwickelt. In seinen Erzählungen formt die Natur mit ihren Künstlerhänden rastlos die Veränderungen am Menschen. »Siehst du nicht auch, wie das Jahr seine vier Gestalten einander folgen lässt, wie es im Abbild den Lauf unseres Lebens uns vorführt?« (Ovid 2007, S. 384)
In der noch jungen Geschichte der empirischen Entwicklungspsychologie hat es viele unterschiedliche Fragen und Konzeptionen von Entwicklung gegeben. Mit Leo Montada lassen sich diese Forschungstraditionen in zwei Phasen einteilen, eine traditionelle und eine moderne Konzeption von Veränderungen im Lebenslauf (vgl. Montada 2008).
Entwicklungsphasen und Entwicklungsstufen stehen bei den traditionellen Theorien im Vordergrund. Der theoretische Fokus liegt auf den Besonderheiten dieser Phasen und Stufen, die es davor oder danach nicht gibt. Eine heute noch häufig zitierte Konzeption des Lebenslaufs in Phasen hat Erik Erikson mit seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung beschrieben (vgl. Erikson 1980). Bei den Stufenmodellen kommen weitere wesentliche Grundannahmen hinzu. Hier wird eine Entwicklungslogik durch die Notwendigkeit einer Stufenfolge und ein End- oder Reifestadium argumentiert. Entwicklung wird als eine Veränderungsreihe mit mehreren Schritten in Richtung eines höherwertigen End- oder Reifezustandes beschrieben (vgl. Montada 2008). Es wird postuliert, dass diese Schritte irreversible qualitative Wachstumsschritte sind. Die Veränderungen korrelieren mit dem Lebensalter und die Stufen sind universell (ebd.). Am besten lassen sich diese Grundannahmen am Beispiel der Entwicklung der Motorik beschreiben. Hier wird ein innerer Bauplan angenommen, der sich in einer normalen Umgebung universell entfaltet. Die motorischen Entwicklungsschritte sind irreversibel, sie korrelieren mit dem Lebensalter und unterscheiden sich jeweils in ihrer Qualität von vorangegangenen Bewegungen. So können die meisten Kleinkinder im Alter von 30-34 Wochen ohne Stütze sitzen und zwischen 34-40 Wochen mit Hilfe stehen (vgl. Montada 2008).
Löst man sich von der primär biologischen Perspektive von Entwicklung und erweitert den theoretischen Horizont auf andere Entwicklungsbereiche, wie die Entwicklung der Persönlichkeit oder Intelligenz, stoßen traditionelle Entwicklungskonzepte schnell an ihre Grenzen. Demnach lassen sich nicht alle Entwicklungsschritte aus vorangegangenen ableiten. Oftmals gibt es keinen direkten Zusammenhang mit vorherigen Entwicklungsstufen. Soziale Probleme im Kindergarten und später können einen starken Zusammenhang mit der frühen Bindung im ersten Lebensjahr aufweisen (vgl. Zimmermann et al. 2000). Auch die Entwicklung in Richtung eines höheren Niveaus ist einschränkend. Eine solche Konzeption schließt Entwicklungsprozesse im Alter aus, die durch Abbau gekennzeichnet sind (Lindenberger & Schaefer 2008). Ebenso schließt die Konzeption eines universellen Reifezustandes als Endpunkt von Entwicklung lebenslanges Lernen aus. Und die Einschränkung auf qualitative Entwicklungsschritte verhindert einen differenzierten Blick auf Veränderungen über die Lebensspanne. Intelligenzentwicklung zum Beispiel lässt sich in qualitative und quantitative Dimensionen unterscheiden (vgl. Montada 2008). Zum einen hängt die Intelligenzentwicklung mit der Zunahme des Wortschatzes und der Anzahl lösbarer Aufgaben zusammen, zum anderen kommt es zu Veränderungen der Strukturen des Denkens und der Problemlösestrategien. Die Annahme von Universalität in der Entwicklung vernachlässigt zum einen kulturelle und umweltbedingte Einflussgrößen (Oerter 2008). Zum anderen werden differenzielle und individuelle Einflüsse ignoriert und übersehen (Montada 2008). Dabei fällt die individuelle Anlage ebenso aus dem forschenden Blickfeld wie individuelle Erfahrungen und pathologische Entwicklungen.
Um diesen engen Entwicklungsbegriff zu überwinden, hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend eine neuere Sichtweise von Veränderungen über den Lebenslauf durchgesetzt. Die Hauptrichtung geht in die Erforschung der Entwicklung über die gesamte Lebensspanne und die Untersuchung differenzieller Entwicklungsverläufe. In Anlehnung an Baltes (1990), Brandstädter (2007) und Montada (2008) lassen sich fünf grobe Leitsätze formulieren, die der modernen Entwicklungspsychologie zugrundeliegen. Auff allend daran ist eine metatheoretische Orientierung. »Die Bedeutung der einzelnen Leitsätze ist hierbei weniger wichtig als die Gestalt, die sie zusammen herstellen.« (Baltes 1990, S. 3) Entwicklung über die Lebensspanne wird als so komplex angenommen, dass einzelne Theorien zu kurz greifen, um dieses Phänomen zu beschreiben. So werden Leitsätze formuliert, an denen wir uns orientieren können, wenn wir Veränderungen über die Lebensspanne untersuchen und verstehen wollen.
1. Von allgemeinen zu differenziellen Entwicklungsverläufen (Fokussierung auf Unterschiede)
Die universelle Grundannahme von Entwicklungsprozessen weicht einer differenziellen Sicht. Veränderungen werden nun sehr individuell untersucht. Unterschiede zwischen einzelnen Menschen und ihren individuellen Entwicklungsverläufen stehen im Zentrum. Entwicklung ist aus dieser Perspektive das Ergebnis vieler verschiedener Einflussgrößen, die jeweils in ihrer spezifischen Zusammensetzung und Wirkung erforscht werden müssen. Differenzielle Entwicklungsverläufe werden zusätzlich durch einen hohen Grad an intraindividueller Plastizität (Veränderbarkeit innerhalb einer Person) beeinflusst (vgl. Baltes 1990).
2. Entwicklung findet immer in einer Umwelt statt (Ökologie)
Die Entschlüsselung von genetischer Information und das Konzept eines inneren Bauplans müssen einer primär ökologischen Perspektive weichen. Die Umwelt rückt bei der Beschreibung entwicklungspsychologischer Phänomene zunehmend ins Zentrum.
3. Entwicklung erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne (Lifespan-Development)
Keine Altersstufe nimmt in der Entwicklung eine Vorrangstellung ein. Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess, der kontinuierliche und diskontinuierliche Prozesse umfasst (Baltes 1990).
4. Entwicklung als Gewinn und Verlust
»Entwicklung bedeutet nicht nur Zuwachs in der Kapazität oder Zuwachs im Sinne einer höheren Effizienz. Über die gesamte Lebensspanne hinweg setzt sich vielmehr Entwicklung immer aus Gewinn (Wachstum) und Verlust (Abbau) zusammen.« (Baltes 1990, S. 4)
5. Kontextualismus
»In konzeptioneller Hinsicht resultiert jeder Entwicklungsverlauf aus der Wechselwirkung (Dialektik) dreier Systeme von Entwicklungseinflüssen: altersbedingten, geschichtlich bedingten und nicht-normativen.« (Baltes 1990, S.4)
Alle drei Systeme beeinflussen sich gegenseitig und ihr Zusammenspiel wird in dem Begriff Kontextualismus zusammengefasst.
Ontogenetische Entwicklung findet immer in einem historischen Feld statt, in dem vorhersehbare und nicht vorhersehbare Ereignisse in psychologischen Phänomenen sichtbar werden. Die Wechselwirkung externaler und internaler Faktoren bildet das Zentrum moderner Theorieansätze. Mit dem Begriff der Passung von Brandstädter (1985) wird diesem transaktionalen Denken Rechnung getragen (vgl. Montada, 2008). Entwicklung findet in seiner Konzeption durch Wechselwirkungen von den Zielen und Potenzialen des Individuums auf der einen Seite und den Anforderungen und Angeboten der Umwelt auf der anderen Seite statt.
Koffka und Lewin – Vordenker der Gestalttherapie und ihre entwicklungstheoretischen Studien
Kurt Koffka, ein Mitbegründer der Gestaltpsychologie, beschreibt in seinem 1921 veröffentlichen Buch »Die Grundlagen der psychischen Entwicklung: eine Einführung in die Kinderpsychologie« einen Gegenentwurf zur damals vorherrschenden Theorie des