Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Veränderungen in Richtung Wachstum und Emanzipation zu bemerke. Frau D. hat z. B. eingeführt, ihre Tochter zu ihren Freundinnen mitzunehmen, zuvor sollte das Kind immer bei den Großeltern bleiben, wenn die junge Mutter das Haus verlässt. Sie führt Gespräche mit ihrem Mann, fordert ein, dass er sein Vertrauen ihr gegenüber bei seiner Familie deutlich macht und damit neu festgelegt ist, dass die Verantwortung für Aylins Ernährung nur bei Frau D. liegen soll. Sie initiiert auch, dass die jungen Eltern wieder etwas gemeinsam als Paar unternehmen (wobei die Großeltern gerne Babysitter sind). Und die Zeit zu dritt kann phasenweise unbeschwerter genossen werden. Intuitionsgestärkt geht Frau D. feinfühliger mit den Bedürfnissen ihrer Tochter um, Verweigerungen bei der Nahrungsaufnahme können besser akzeptiert werden, ohne in einen Angst- und Stresskreislauf zu kommen.
Auf Wunsch der Mutter vereinbaren wir keine weiteren Termine, sie würde sich bei Bedarf melden. Von der behandelnden Kinderärztin erhalte ich (mit Zustimmung von Frau D.) ein knappes Jahr später die Rückmeldung, dass derzeit der Umgang mit Trotz und dem Setzen von Grenzen zwar fordernd für die Mutter sei, sich rund um das Thema Essen die Situation aber weiter entspannt habe und nicht mehr Teil eines familiären Machtkampfes sei.
Abschließende Bemerkung
Mittlerweile ist die präventive Wirkung früher psychotherapeutischer Interventionen für eine bestmögliche (emotionale, kognitive und somatische) Entwicklung eines Kindes mehrfach wissenschaftlich belegt (z. B. Brisch, 1998; Fonagy et al. 2004; Papousek et al., 2004; Schmücker et al., 2005).
Es konnte durch Studien aufgezeigt werden, dass sicher gebundene Kinder, jene also, die eine innere Kontaktsicherheit erlangt haben, besser und differenzierter Notsituationen bewältigen können, mehr freundschaftliche Beziehungen aufbauen und ihrer Partnerin/ihrem Partner häufiger eine emotionale Verfügbarkeit bieten. An Konflikte gehen sie konstruktiver, sozialer und weniger aggressiv heran. Im kognitiven Bereich entwickeln sich diese Kinder differenzierter, kreativer und ausdauernder. Im Lernverhalten und bei Gedächtnisleistungen schneiden sie besser ab. Auch in der Sprachentwicklung kommt es bei den untersuchten Kleinkindern zu weniger Störungen (vgl. Dieter et al. 2005; Klann-Delius 2002; in Brisch 2007).
Im Gegensatz dazu führen Bindungsstörungen und unsichere innere Kontaktmodelle zu einer verlangsamten kindlichen Entwicklung, zu erheblichen Irritationen bis zu psychopathologischen Auffälligkeiten (vgl. Zeanah & Emde 1994).
Es ist zu wünschen, dass eine möglichst frühe Inanspruchnahme psychotherapeutischer Intervention selbstverständlich wird und Zugangsmöglichkeiten so niederschwellig wie möglich angeboten werden9. Dadurch kann bei kleineren Irritationen des Eltern-Kind-Feldes die Selbstunterstützungsfähigkeit so rasch als möglich aktiviert und eine Chronifizierung (in Richtung Kontaktstörung) verhindert werden bzw. bei Vorliegen traumatischer Vorerfahrungen der Teufelskreis der Weitergabe von einer Generation zur nächsten durchbrochen werden.
Thomas Schön
Der Blick auf Kindheit aus gestalttherapeutischer Sicht
Was ein Kind braucht
Wenn ein Kind geboren ist,
braucht es eine Wohnung,
Kleider, eine Spielzeugkist,
Bonbons als Belohnung,
Murmeln und ein eigenes Bett,
einen Kindergarten,
Bücher und ein Schaukelbrett,
Tiere aller Art,
Wälder, Wiesen, eine Stadt,
Sommer, Regen, Winter,
Flieger, Schiffe und ein Rad,
viele andre Kinder,
einen Mann, der Arbeit hat,
eine kluge Mutter,
Länder, wo es Frieden hat
und auch Brot und Butter.
Wenn ein Kind nichts davon hat
kann’s nicht menschlich werden.
Daß ein Kind das alles hat,
sind wir auf der Erden.
(Maiwald, 1983)
Die Geschichte der Kindheit
»Früher brauchte man ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Und heute? Was brauchen wir heute, wo kaum noch dörfliche Strukturen in Mitteleuropa vorhanden sind und Kindheit sich radikal unterscheidet von dem, was früher Kindheit war? Kindheit hat sich gewandelt im Laufe der Jahrhunderte und wandelt sich noch immer in einem Tempo, das es schwer macht, sie überhaupt zu fassen und zu beschreiben. Weltweit unterscheidet sich Kindheit sehr stark, je nachdem wo Kinder heranwachsen. Selbst in Europa gibt es große Unterschiede. Kinder in Österreich etwa finden ganz andere Lebensbedingungen vor als Kinder in Moldawien. Dabei gibt es Kindheit in der Menschheitsgeschichte erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Kindheit ist eine Erfindung des europäischen 17. Jahrhunderts (vgl. Böhme 1985). Seit dieser Zeit gilt Kindheit als eigenständige Lebensform, seitdem gibt es speziell für Kinder produziertes Spielzeug und eine eigene Kinder- und Jugendliteratur. Wir gehen heute davon aus, dass Kindheit – vor allem frühe Kindheit – den Menschen in seiner weiteren Entwicklung maßgeblich prägt. Diese Einschätzung war nicht immer so. Kindheit wurde lange Zeit als wertlos betrachtet und Kinder als unfertige Erwachsene gesehen. Ein Kinderleben galt nicht viel bis ins Mittelalter, abgesehen von adeliger Heiratspolitik, die Kinder verdinglichte im Dienste der Machterhaltung von Herrscherhäusern. In dieser Zeit lebten die meisten Familien in einem gemeinsamen Raum. Kinder waren unmittelbar mit den Lebensabläufen der Zeugung, des Gebärens und des Sterbens konfrontiert. Als Siebenjährige wurden Kinder in gehobenen sozialen Schichten an befreundete Familien zum Dienen geschickt. Die meisten Kinder blieben jedoch als Arbeitskräfte in ihren eigenen Familien oder trugen zum Familienunterhalt bei, was bis ins 20. Jahrhundert hineinreichte. Fünfj ährige mussten bereits in Fabriken arbeiten, manche bis zu vierzehn Stunden. Sie wurden für schwierigste Tätigkeiten herangezogen. Schlanke Buben wurden etwa gezwungen, den Ruß aus Kaminen herauszukratzen. 1813 war die Hälft e der englischen Weber Kinder unter 14 Jahren. Die Kindersterblichkeit war enorm. Noch im 18. Jahrhundert erreichte kaum die Hälfte der Kinder das 8. Lebensjahr. Aries und andere Historiker gehen davon aus, dass Eltern aus diesem Grund keine tieferen Bindungen zu ihren Kindern entwickelten, da die begründete Sorge bestand, sie würden ohnehin nicht lange leben. Trotzdem entwickelten Eltern eine hohe Anteilnahme an ihren Kindern und waren nicht gleichgültig, was eine Auswertung von 500 Tagebüchern und Autobiografien von 1500 – 1900 zeigt (vgl. Böhme 1985, 274).
Rousseau markierte 1762 mit »Emile oder über die Erziehung« einen ersten Wendepunkt in der Einstellung Kindern gegenüber. Die körperliche Misshandlung von Kindern und Prügel waren über Jahrtausende die Regel und so schreibt Rousseau über ein eigenes Kindheitserlebnis körperlicher Gewalterfahrung:
»… die gleiche Züchtigung wurde …verhängt. Sie war schrecklich. Wenn man das Heilmittel mit dem Übel selbst suchen und meine verderbten Sinne hätte ein für allemal abtöten wollen, hätte man es nicht besser anstellen können … Mehrere male vorgenommen und furchtbar misshandelt, war ich unerschütterlich. Ich war entschlossen, sogar den Tod auf mich zu nehmen. Selbst die Gewalt musste dem teuflischen Starrsinn eines Kindes weichen, denn nicht anders nannte man meine Festigkeit. Endlich entrann ich aus dieser grausamen Prüfung, zerfetzt, aber triumphierend … Man denke sich einen im gewöhnlichen Leben schüchternen und lenksamen, aber feurigen, stolzen und in seinen Leidenschaften unzähmbaren Charakter, ein stets von der Stimme der Vernunft geleitetes, stets mit Sanftmut, Billigkeit und Freundlichkeit behandeltes Kind, das nicht einmal einen Begriff von der Ungerechtigkeit hatte und nun zum ersten mal eine so schreckliche von denjenigen Menschen erfährt, die es liebt und am meisten achtet. Welch ein Umsturz der Begriffe! Welche Verwirrung der Gefühle! Welche Umwälzung in seinem Herzen, in seinem Hirn, in seinem ganzen kindlichen Geistes- und Seelenleben! … Noch jetzt, während ich das schreibe, fühle ich meinen Puls schneller schlagen … Damit hatte