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Resilienzcoaching für Menschen und Systeme. Günther MohrЧитать онлайн книгу.

Resilienzcoaching für Menschen und Systeme - Günther Mohr


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dessen, was gerade passiert oder passiert ist. Wenn dann, wie seit den 1990er-Jahren, die Forderung nach Resilienz die Schattenseiten der neoliberalen Wirtschaft kompensieren sollen, das heißt, wenn der Staat seine Aufgaben nicht mehr wahrnimmt und die Folgen davon auf den Einzelnen abschiebt, ist diese Forderung in Frage zu stellen. Ich habe dieses Thema im Buch Systemische Wirtschaftsanalyse–Mensch und Ökonomie in Einklang bringen (Mohr 2015) ausführlich behandelt. Man sollte also immer schauen, in welcher Situation und von wem Resilienz thematisiert wird.

      Auch viele Staaten, die als failed state (gescheitertes Staatswesen) anzusehen sind, bzw. die Staaten, die dies bei anderen herbeiführen (z. B. die US-Amerikaner im Irak oder die Europäer und Amerikaner in Libyen; Israel in den Palästinensergebieten), bürden den Menschen Unmengen von Resilienzanforderungen auf. Ähnliches gilt auch für einen Großteil der afrikanischen Staaten. Dort kommen zur oft bitteren Armut noch die vielfältigen von Menschenhand verschärften Bedingungen (Korruption, Machtexzesse usw.) hinzu. Die Improvisationskünste der Menschen in diesen Ländern und auch ihr sozialer Zusammenhalt sind notgedrungen häufig sehr hoch entwickelt.

      Dies hat sich auch in anderen historischen Situationen gezeigt. Beispielsweise hatten Menschen in der DDR und überhaupt in den Ostblockstaaten eine hohe Kompetenz zur gegenseitigen Unterstützung entwickelt. Der polnische Handwerker ist noch heute ein Synonym für gute Improvisationsfähigkeit. Und wer in der DDR ein Haus bauen wollte, musste ein ganzes Netzwerk haben (einen, der einen Lkw hat; Menschen, die an Baumaterialien herankommen usw.). Diese Netzwerk-Kompetenzen waren nach der Wende mit der flächendeckenden »Eroberung durch Baumärkte« nichts mehr wert. Man konnte ja nun alles kaufen. Generell können mit der Zunahme von käuflichen Gütern manche Eigenständigkeiten von Menschen verloren gehen, wie der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel (2014) anmerkt.

      Andererseits ist es bisher nirgendwo und niemals gelungen, das Leiden von den Menschen gänzlich wegzunehmen. Die »leidvolle Existenz« wird in vielen Weisheitslehren und Religionen – etwa im Buddhismus in seiner ersten Wahrheit »Das Leben ist Leiden« – an den Anfang der Analyse gestellt. Auch andere große Weisheitsgeschichten der Menschheit, wie etwa das biblische Neue Testament, das in die Passionsgeschichte mit der Kreuzigung Jesu mündet, thematisieren die schicksalhafte Schwere des Menschseins. Das Leidhafte des menschlichen Lebens, sei es die Sicherheit des Todes, die Existenz von Krankheiten, Naturkatastrophen, Unfälle oder andere Schicksalsschläge, bleiben erhalten. Da hilft kein Konsumparadies auf Erden. Die Daseinsanalytikerin Alice Holzhey-Kunz (2014) meint in ihrer Betrachtung der Polarität von Schicksalsglaube und Machbarkeitswahn, dass Hysteriker, die dauernd Gefahren wie Krankheitsanfälligkeiten zu sehen glauben, vielleicht realistischer seien als die, die dies ganz ausblenden. Da in der Meditation das Ziel verfolgt wird, das Leben ganzheitlich in seinem Wesen zu erfassen, hat schon der Buddha selbst in seinen Achtsamkeitsübungen auch solche Phantasien mit einbezogen, die sich mit dem eigenen Tod befassen (Thich Nhat Hanh 1999).

      Sind nun die Menschen in Israel, einem Land, in dem Bedrohung und Spannung ständig vorhanden sind, resilienter als anderswo? Mir sind keine ländervergleichenden Untersuchungen bekannt. Ich würde die Frage auch nicht mit »ja« beantworten wollen. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Spannung und Bedrohung. In Israel lässt sich ein gewisser Gewöhnungseffekt ausmachen und offensichtlich eine noch höhere Leidensfähigkeit bei den Palästinensern. Es wäre zu untersuchen, ob dies dann zu einem positiven zwischenmenschlichen Verhalten führt oder etwa zum Rückzug in die Familie, die in orientalischen Gesellschaften immer eine große Rolle spielt. Das Beispiel von Ofakim, einer israelischen Stadt, die in naher Raketenreichweite zum Gazastreifen liegt, zeigt, dass Menschen sich bei Bedrohungen eher aus der Öffentlichkeit und dem Gemeinschaftsleben zurückziehen. Wenn dort die Sirenen schrillen, haben die Menschen nur 20 Sekunden Zeit. Sie bleiben also im Schutzraum und konsumieren intensiv Fernsehen oder Internet.

      Kollektive Traumata

      Am Abend nach der ruhigen Nacht gibt es wieder Alarm, und wir schauen – obwohl wir eigentlich die Metallwand vor das Fenster ziehen sollten – hinaus, um die Raketen fliegen zu sehen. Es sieht ein bisschen wie ein Feuerwerk aus. Seit letzter Woche sind täglich bis zu 20 Raketen aus Gaza Richtung Israel abgefeuert wurden. Mit ihren von den USA gelieferten Abwehrraketen, »Iron Dome« genannt, gelingt es, einen Teil der Raketen abzufangen und zu vernichten. Ich weiß von einem Bekannten, dass diese zum Teil von jungen Mädchen abgefeuert werden, die in einem sicheren Bunker sitzen und die Waffen fernsteuern. Viele Raketen gehen auch wegen ihrer geringen Präzision in unbewohntem Gelände herunter. Aber letzte Nacht ist eine Farbenfirma und diese Nacht wieder ein Wohnhaus getroffen worden. Es ist eine hilflose, verzweifelte Kriegsführung der Hamas, die wenig bewirkt. Die Reaktion der Israelis mit ihrer überlegenen Armee auf diese Angriffe sind Bombenabwürfe auf die vermeintlichen Abschussrampen in Gaza. Die Palästinenser haben keine Abwehrraketen, sie »schützen« ihre Abschussrampen, indem sie sie aus einer Schule oder einem Krankenhaus abfeuern. Die Opferzahl ist dann immer sehr hoch.

      So ist der Kreislauf hier, seit die Israelis den Gazastreifen geräumt haben: Rakete in Richtung Israel – Luftangriff auf die Abschussstelle in Gaza – Rakete in Richtung Israel – Luftangriff auf die Abschussstelle in Gaza, so geht es immer weiter. Und viele Unschuldige sterben für diesen Wahnsinn der jeweils Herrschenden.

      Israel/Palästina ist ein Beispiel dafür, dass erlittene Traumata weitergegeben und ständig erhalten werden. Ein Trauma ist nicht nur das private Schicksal. Die Menschen tragen große Traumata etwa aus Kriegen mit sich, die sich in einem kollektiven Narrativ oder im kollektiven Unbewussten einer Gruppe niederschlagen. Viele Juden würden heute noch nicht nach Deutschland fahren, obwohl sie selbst keinen Holocaust erlebt haben und Deutschland heute ganz anders ist. In ihrer Vorstellung ist die potenzielle Lebensbedrohung immer noch da. Große Traumata entstehen durch Weitergabe in Familien. Frankreich und Deutschland galten als »Erbfeinde«. Zum Glück konnte die Friedenspolitik von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle mit dieser »Tradition« brechen. Zwischen Serben und Kroaten wurde die Feindschaft im sozialistischen Jugoslawien unter der Decke gehalten, danach brach sie umso brutaler aus. Zwischen Russland und der Ukraine sind die Hungerwinter, die Stalin den Ukrainern Anfang der 1930er- und Mitte der 1940er-Jahre bereitet hat, noch nicht vergessen. Diese Erfahrungen befeuern spätere Konflikte. Wenn es nicht zu einer Versöhnung kommt, brechen sie erfahrungsgemäß immer wieder aus. Diese transgenerationale Perspektive der Traumata ist bei der Entwicklung und eventuellen Wiederherstellung von Resilienz nicht aus den Augen zu verlieren.

      Resilienzerfordernisse entstehen teilweise durch politische Systemkonstellationen, und wie wir sehen werden, benötigen sie systemische Antworten, um bewältigt werden zu können. Dazu gehört, dass ein Zusammenwirken von Faktoren entstehen muss und der Mensch über die Gemeinschaft Resilienz erfährt.

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