Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung. Hieronymus CardanusЧитать онлайн книгу.
vielen Irrtümern sind die Menschen befangen, keiner aber ist größer als der, wenn sie das Wort »Standhaftigkeit« schwatzend im Munde führen. Denn einmal muss hier wohl unterschieden werden: die wahre Beharrlichkeit ist eine Gabe Gottes, die unechte dagegen eine Sache der Tölpel und Narren. Jedermann wird die Standhaftigkeit des Diogenes, der den ganzen Sommer in der Sonne lag und im glühend heißen Sand sich wälzte und winters eiskalte Säulen nackt umarmte, lächerlich und völlig töricht finden. Eine ganz herrliche Tugend aber war die Standhaftigkeit des Bragadino84, jenes venezianischen Adligen, der Dinge erduldete, die selbst der roheste seiner übermütigen Besieger sich scheute an ihm zu vollziehen, Qualen, die ihn unsterblichen Ruhmes würdig machten: Es wurde ihm lebendigen Leibes die Haut abgezogen. Und wenn es auch Gnade Gottes war, dass er solche Martern ertragen konnte, so war es doch gewiss menschliche Größe, sie ertragen zu wollen.
Und wenn nun auch im Unglück leichter einer zu strahlender Seelengröße sich erheben mag, so gibt es doch auch in glücklichen Lebenslagen nicht seltener Gelegenheiten, sich echter Bewunderung würdig zu erweisen. Und weiter sind auch Menschen, denen solche Gelegenheiten fehlen, darum doch nicht als minder standhaft zu betrachten. Da man sich nun auf so vielerlei Weise in Bezug auf diese Tugend irren kann, so ist jedenfalls festzuhalten, dass wir an sich es uns weder zum Ruhm anrechnen dürfen, wenn wir ein Übel ertragen haben, noch zum Tadel, wenn uns die Gelegenheit dazu fehlte, dass wir nicht als unser Verdienst noch als unsere Schande betrachten dürfen, was die Natur getan oder unterlassen hat. Ich will mich nicht damit verteidigen, dass ich behaupte, es habe mir in irgendeiner Weise an Gelegenheiten zum Erweis meiner Standhaftigkeit gefehlt; denn niemand, glaube ich, ist mir so feind und beurteilt mich so ungerecht, dass er nicht eher meine Geduld im Unglück und meine Selbstbeherrschung im Glück bewunderte, als mir zum Vorwurfe machte, dass ich angenehme Dinge missachte oder unangenehme ruhig ertrage. Ich erinnere an die Vergnügungen und heiteren Ereignisse meines Lebens, aber auch an meine Krankheiten, an meine stets schwachen Leibeskräfte, an die Verleumdungen meiner Neider, an manche wenig glücklichen Erfolge, an Prozesse, Anfeindungen, an die Drohungen einflussreicher Leute, an die Verdächtigungen, womit Einzelne mich verfolgten, an das Unglück in meiner Familie, an den Mangel so vieler irdischer Güter, endlich an die zweifelhaften Ratschläge, die mir solche gaben, die wirklich meine Freunde waren oder mir doch Freundschaft heuchelten, vor allem an die Gefahren, die für mich die überall wuchernden Irrlehren mit sich brachten.
Mochte mir auch manchmal ein freundliches Geschick lächeln und mochten mir auch noch so viele glückliche Erfolge beschieden sein, nie habe ich meine Sitten und mein Betragen geändert; ich bin dadurch nicht hochmütiger geworden, noch ehrgeiziger, noch auch ungeduldiger, ich habe deswegen nicht die Armen verachtet, noch meine alten Freunde vergessen, ich bin nicht spröder im Verkehr, noch hochfahrender in meiner Rede geworden; ich habe auch darum keine kostbareren Kleider getragen, außer, wenn die gesellschaftliche Stellung, die ich einnahm, mich dazu zwang, und vielleicht auch im Allgemeinen, weil ich, wie ich schon erzählte, in früheren Jahren meiner Armut wegen eben allzu schäbige Kleidung getragen hatte. In widrigen Lebenslagen freilich erwies sich mein Charakter als nicht ganz so fest und standhaft. Hatte ich doch auch Dinge zu ertragen, die in keinem Verhältnis zu meinen Kräften standen. In solchen Fällen habe ich mit äußeren Mitteln meine Natur bezwungen. Ich habe nämlich mitten unter den ärgsten Seelenqualen mit einer Rute meine Beine gepeitscht, habe mich stark in den linken Arm gebissen, habe gefastet und durch reichliche Tränen mein Herz erleichtert, wenn es mir gelang zu weinen, was freilich nur sehr selten der Fall war. Auch habe ich dann mit Vernunftgründen gegen meine seelischen Schmerzen angekämpft, habe mir selbst versichert: »Es ist ja gar nichts Neues geschehen, die Zeit nur hat sich geändert, rascher freilich, als ich dachte. Aber hätte ich denn für ewige Zeiten von dieser Stunde und ihrer Qual verschont bleiben können? Und bin ich so um ein paar Jahre betrogen worden, was soll dies bisschen Zeit, verglichen mit der Ewigkeit? Schließlich, habe ich nur noch wenige Jahre, so habe ich nur wenig verloren; lebe ich noch länger, nun, so lacht mir ein langes Leben, und vielleicht wird noch manches eintreten, das meinen Schmerz lindert und mir an seiner Stelle ewigen Ruhm schenken mag. Und endlich, stünde ich besser, wenn dieser Schmerz mir nie geworden wäre? In Wirklichkeit freilich war ich dem Schmerz nie gewachsen, wie ich weiter unten erzählen werde, Gottes Barmherzigkeit und ein offensichtliches Wunder haben mich von ihm befreit.
Bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten bewies ich eine noch größere Beharrlichkeit, vor allem bei der Abfassung meiner Bücher. Boten sich mir auch die günstigsten Gelegenheiten anderer Art, ich ließ doch nie von dem einmal Angefangenen ab, sondern harrte treu bei der begonnenen Arbeit aus; bei meinem Vater nämlich hatte ich die Beobachtung gemacht, wie viel ihm der stete Wechsel in seinen Beschäftigungen geschadet hat. Ich glaube nicht, dass mich jemand darum tadeln wird, dass ich damals, als man mich in die Accademia degli Affidati85 aufnahm, in der viele Fürstlichkeiten und Kardinäle die erste Rolle spielten, nicht von vornherein ablehnte und mich der Sache ganz entzog. Nur aus ängstlicher Bescheidenheit nahm ich damals an; als die Akademiker aber, mit allen Insignien bekleidet, dem König vorgestellt werden sollten, lehnte ich für meinen Teil ab und erklärte offen, dass ein derartiger Pomp meinem Charakter nicht entspreche. Bezüglich der Tugend im Allgemeinen habe ich nichts anderes zu sagen, als was schon Horaz gesagt hat:
»Tugend heißt das Laster fliehen.«86
Nie habe ich mit einem Freunde gebrochen, und war es dennoch einmal wider meinen Willen zum Bruch gekommen, so habe ich nie Geheimnisse ausgeschwatzt, die ich als Freund erfahren – wie ich denn überhaupt mir niemals fremdes geistiges Eigentum angeeignet habe –, und habe auch nie dem mir Verfeindeten frühere Äußerungen vorgehalten, ein Punkt, in dem ein Aristoteles manches, ein Galenus, der bis zu den hässlichsten Streitereien sich hinreißen ließ, sehr viel gesündigt hat. Nur dem Plato stehe ich in dieser Sache nach. Ein Vorbild in dieser Tugend hatte ich an Andreas Vesal, einem vornehm ruhigen Charakter, der, von Matteo Curzio87 durch kleinliche Angriffe gereizt, gleichwohl dessen nie tadelnd erwähnen wollte. Auch habe ich, stets von reinem wissenschaftlichem Interesse beherrscht, den Curzio seiner Gelehrsamkeit wegen nie beneidet. Und wenn er mich auch als Dieb verschrien hat, weil ich einmal ein Pfand von ihm zurückbehielt für eine Geldsumme, die er mir ohne Zeugen versprochen hatte, so hat er doch, als er nach Pisa übersiedelte und der Senat der Universität von Pavia ihn frug, ob ich wohl geeignet sei, seine Stelle einzunehmen, geantwortet: »Mehr als irgendein anderer.« Und da der Senat wohl wusste, dass wir uns nicht versöhnt hatten, erteilte er mir den Lehrauftrag, den Curzio innegehabt. Zu meinen guten Eigenschaften gehört auch zweifellos, dass ich von frühester Jugend an niemals eine Lüge gesprochen, dass ich Armut, Verleumdungen und so viel anderes Unglück ertragen habe und dass man mit einigem Rechte mich niemals der Undankbarkeit bezichtigen konnte. Doch schon zu viel des Selbstlobes!
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Von meinen Freunden und Gönnern
Mein erster Jugendfreund war Ambrogio Varadeo, mein Genosse im Schachspiel und im Musizieren; Ähnlichkeit des Charakters hatte uns zusammengeführt. In späteren Jugendjahren war ich dann vor allem befreundet mit Prospero Marinoni aus Pavia, mit dem Mailänder Ottaviano Scotto, der mir oft mit Darlehen aus Geldverlegenheiten geholfen hat, und mit Gaspare Gallareato. Während meines Aufenthaltes im Städtchen Sacco verband mich eine enge Freundschaft mit Giovanni Maria Mauroceno, einem venezianischen Adligen, und mit dem Drogisten Paolo Illirico. Nach meiner Rückkehr nach Mailand gewann ich die Freundschaft des dortigen Erzbischofs, Filippo Archinti, der mich dann mit Lodovico Madio bekannt machte, dessen Unterstützung ich bedurfte und genossen habe. Unter manchen anderen lernte ich zu Mailand den Juwelier Girolamo Guerrini kennen, von dem ich viele Geheimmittel erfuhr, über die ich später in meinen Büchern berichtet habe, aber nicht in der Art der Plagiatoren, die aus fremden Büchern ihre Weisheit zusammenstehlen. Durch Guerrini wurde ich auch bei dem Florentiner Francesco Belloti eingeführt. Des Weiteren befreundete ich mich mit dem Rechtsgelehrten Francesco della Croce, einem angesehenen, wackeren Manne, der auch in der Mathematik Bescheid wusste und dessen Hilfe ich sehr viel verdankte, als es sich um meine Aufnahme in das Kollegium der Ärzte handelte. Durch die Vermittlung des Drogisten Donato Lanza wurde ich mit dem Senator von Cremona, Francesco Sfondrati, befreundet, der später Kardinal wurde; und durch diesen wiederum machte ich die