Klingen, um in sich zu wohnen 2. Udo BaerЧитать онлайн книгу.
erst einmal genommen, hilft es häufig, diesen Satz auch durchzukauen, ihn zu singen, ihn zu rhythmisieren, ihn in verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken auszusprechen etc. Dadurch wird der Satz angeeignet, erhält er eine eigene Färbung.
Der Klang der Sprache kann von großer Bedeutung für den therapeutischen Prozess sein, auch ohne dass Sätze oder Textbestandteile Ausgangspunkt sind. „Jede Stimme ist einzigartig in ihrer Zusammensetzung und Nutzung der musikalischen Bausteine:
Der Rhythmus, in dem eine Stimme spricht, das Pausieren oder Fließen der Stimme, ihre Abruptheit und ihre großen Bögen.
Die Dynamik, mit der eine Stimme spricht, die Zurückgenommenheit oder Vordergründigkeit der Stimme, ihr Poltern, Bellen, Lärmen oder ihr Wispern, ihre Verhaltenheit, ihre Zärtlichkeit.
Der Klang, die Fülle oder Enge, Dichte oder Dünnheit, mit der eine Stimme immer auch Nähe oder Distanziertheit ausdrückt, ihre Dumpfheit oder Helligkeit, ihre Belegtheit oder Klarheit.
Ihre Melodie, zwischen monotoner Rezitationsstimme oder in großen, dramatischen Melodiebögen sich entwickelnd, zwischen winzigen Ausschlägen nach oben und unten, in Höhen und Tiefen schwankend, zwischen Schlichtheit oder verzierender Überladenheit, dem ‚Pathos’ einer Stimme.“ (Decker-Voigt 1999, S.159)
Wenn wir KlientInnen zuhören, vernehmen wir nicht nur die Worte, sondern lauschen auch dem Klang ihrer Sprache und lassen ihn auf uns wirken. Die Unterschiede der Sprachklänge können frappierend sein. Auffallen kann z. B.:
Ein Klient erzählt monoton im immer gleich bleibenden Rhythmus, ganz gleich ob es sich um eher belanglose Ereignisse handelt oder aufregende Dinge – im Klangbild der Sprache wird keine Gewichtung vorgenommen.
Manche KlientInnen singen ihr gesprochenes Wort. Wenn man ihnen mit geschlossenen Augen lauscht, hört man Melodien unterschiedlichen Charakters, die differenzierte Reaktionen hervorrufen.
Ein Klient nutzte die Lautstärke seiner Stimme als Barometer seines inneren Erlebens. Je aufregender es wurde, je mehr seine Erregung in die Höhe stieg, je mehr sein Herz betroffen wurde, desto leiser wurde er.
Eine Klientin erzählte und erzählte, die Therapeutin vernahm vor allen Dingen die Kraftlosigkeit im Klang ihrer Sprache. Diese rief stärkere Resonanzen in ihr hervor als die Wortaussagen. Als sie ihre Resonanz mitteilte und fragte: „Kann es sein, dass Sie keine Kraft mehr haben?“, stimmte die Klientin zu. Ihre Hauptaussage bestand nicht in den Worten, sondern im Klang ihres Erzählens.
Häufig fallen Diskrepanzen zwischen einem dramatischen Inhalt und einem monotonen, sachlichen Klangbild auf oder umgekehrt zwischen relativ beiläufigen Geschehnissen, von denen erzählt wird, und einem Klangbild des Erzählens, das einer dramatischen Verdi-Oper entspricht.
Solche und viele andere Wahrnehmungen lassen nie konkrete Schlüsse in Bezug auf die KlientInnen zu, sie gehören aber zu den leiblichen Phänomenen, die seitens der MusiktherapeutInnen Beachtung finden sollten. Musiktherapie beginnt nicht erst, wenn Instrumente erklingen oder gesungen wird. Musiktherapie beginnt, wenn einer Sprache und ihren Klängen gelauscht wird und gleichzeitig den Resonanzen, die sich aus diesem Lauschen ergeben, Respekt erwiesen wird.
14.2 Vom Gespräch zum Musizieren
Bestandteil der Musiktherapie ist auch das Sprechen. Musiktherapie ist besonders geeignet, das Unsagbare hörbar werden zu lassen und das Unerhörte zu hören. Musiktherapie kann insbesondere Menschen erreichen, die sich sprachlich nicht oder nur beschränkt ausdrücken können. Und gleichzeitig ist es für die meisten KlientInnen wichtig, für das musizierend Erlebte auch Worte zu finden. Rosemarie Tüpker sagt deshalb zu Sprache und Musik: „Die musiktherapeutische Behandlung bedarf des Austausches von Musik und Sprache. (…) Musiktherapie ist daher kein ‚non-verbales Verfahren’.“ (Tüpker 1996, S.228f) Und sie fügt hinzu, dass dies natürlich nur für die Arbeit mit den Menschen gilt, die nicht auf sprachliche Artikulation verzichten müssen.
Vor einigen Jahren haben wir von frisch ausgebildeten MusiktherapeutInnen die Klage gehört: „Wir kennen uns ganz gut damit aus, wie wir mit Klientinnen und Klienten Musik machen. Wir können uns auch mit Klientinnen und Klienten unterhalten. Aber an den Übergängen hapert es. Wie kommt man aus dem Gespräch ins Musizieren? Und wie redet man anschließend über das Musizierte?“ Diese Klage hat uns deutlich gemacht, dass solche Übergänge nicht selbstverständlich sind, sondern der besonderen Beachtung und Übung bedürfen. Wir haben in diesem Buch an verschiedenen Stellen versucht, dem Rechnung zu tragen, und hoffen, sowohl in methodischer Hinsicht als auch in den Praxisbeispielen etliche Anregungen gegeben zu haben. Dennoch wollen wir hier einige zentrale Gesichtspunkte dieser Übergänge zusammenfassend darstellen. Ausdrücklich weisen wir hier noch einmal darauf hin, dass dem Gespräch, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, schon Aspekte des Musizierens innewohnen, dass man Gesprächen auch klanglich lauschen kann, der eigenen Stimme und denen der anderen, dass also die Kluft zwischen dem Sprechen und dem Musizieren oft gar nicht so groß ist, wie angenommen wird.
Grob zusammengefasst praktizieren wir vier Hauptwege, um aus dem Gespräch ins Musizieren zu gelangen:
Der erste Weg ist einfach: kein Gespräch, nur die Aufforderung oder Absprache zu musizieren. Mit manchen KlientInnen ist keine Möglichkeit der Verständigung gegeben, außer, dass man, wenn man sich begegnet, zu Musikinstrumenten greift und improvisiert. Mit anderen gibt es Vereinbarungen oder sind Rituale entstanden, etwa dass zu Beginn einer jeden therapeutischen Einheit gemeinsam musiziert wird und sich aus diesem gemeinsamen Musizieren Themen, Fragestellungen, Begegnungen etc. ergeben.Häufig gibt es für die Aufforderung zur Improvisation, allein oder gemeinsam, einen Anlass. Ein Anlass muss noch kein Thema sein, ein Thema kann sich daraus ergeben. Ein Anlass kann sein: „Ich möchte, dass wir uns kennen lernen. Vielleicht machen wir dies, indem wir gemeinsam musizieren.“ In vielen Gruppen- oder Einzeltherapien ist die Improvisation der KlientInnen oder das gemeinsame Musizieren der KlientInnen und TherapeutInnen der gegebene Einstieg.
Der zweite Weg ist der Weg über ein Thema (s. a. Kap. 15.3). Ein Thema kann im musikalischen Ausdruck lebendig, erlebbar und veränderbar werden. Manchmal bringen KlientInnen ein Thema mit: „Ich habe mich tierisch über meinen Freund geärgert …“ – „Haben Sie Lust, diesen Ärger zu musizieren?“ Oder ein Thema ergibt sich im Gespräch: ein Beziehungsproblem zur Therapeutin oder zum Therapeuten, ein altes Muster, ein verborgenes Gefühl, das hörbar werden möchte, usw. Fast alle methodischen Darlegungen in diesem Buch enthalten solche Beispiele. Ob dann eine freie Improvisation angeboten wird oder eine differenzierte Methode wie musikalisches Verraumen, ein musikalischer Dialog, ein Ständchen, hängt vom Thema und dem konkreten Stellenwert innerhalb des therapeutischen Prozesses ab. Auch „kein Thema“ kann ein musiktherapeutisches Thema sein. Eine Klientin kommt z. B. mürrisch in die Therapie. Auf die Frage, wie es ihr geht, zuckt sie mit den Schultern. Auf die Frage, ob sie ein Thema mitgebracht hat, schüttelt sie den Kopf. Auf die Frage, ob sie Lust hat zu musizieren, verneint sie. Die Therapeutin schlägt vor: „Gehen Sie zu den Musikinstrumenten und spielen Sie: Ich habe kein Thema und möchte gar nicht hier sein.“ Dieser Vorschlag ist für die Klientin so absurd und offensichtlich gleichzeitig so passend, dass sie lächeln muss, zur Concertina greift und loslegt.
Der dritte Weg: Im Gespräch tauchen häufig Schattenthemen oder Themenschatten auf, auf die die TherapeutInnen hören und die sie ernst nehmen sollten. Werden sie von den KlientInnen musikalisch ausgedrückt und damit hörbar, stecken in ihnen wichtige Erlebnisqualitäten. Zum Beispiel reden KlientInnen manchmal davon, dass ihnen etwas „komisch“ vorkommt oder dass etwas „in der Luft hängt“. Oder die TherapeutInnen spüren eine Atmosphäre, eine nicht greifbare Stimmung. All solche vagen, zunächst nicht konkretisierbaren leiblichen Regungen rufen für uns nach musikalischem Ausdruck. Das gilt auch für therapeutische Prozesse, in denen wir nur am Rande musiktherapeutisch und eher gestaltungs- oder tanztherapeutisch arbeiten. Auch dann ist die Musik, das Musizieren in den meisten Fällen das geeignete