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Klingen, um in sich zu wohnen 1. Udo BaerЧитать онлайн книгу.

Klingen, um in sich zu wohnen 1 - Udo Baer


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Klänge. Jedes Tönen und jedes Musikhören hat eine Geschichte: Schon unmittelbar nach der Geburt geben die Neugeborenen ihre ersten Töne von sich, schon im Mutterleib hören die Menschen die Herztöne der Mutter und viele andere Geräusche des Mutterleibes und der Umgebung. Und in der späteren Kindheit und Jugend wachsen die Erfahrungen mit Klängen, mit eigenen und fremden, verbalen und nonverbalen. Es entwickelt sich ein Ensemble musikalischer (Vor-) Erfahrungen, das bei jeder Person einzigartig ist. Wir nennen es musikalische Biografie.

      In der therapeutischen Praxis und im Alltagsgeschehen begegnet uns diese Geschichte, die musikalische Biografie, manchmal unverhofft und überraschend. Da ist der Klang der Stimme am Nachbartisch, der in uns heftige Reaktionen hervorruft: „Wenn ich diese Stimme höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.“ Da hört das Ehepaar auf der Urlaubsfahrt mitten im Palaver mit den Kindern auf dem Rücksitz plötzlich im Radio ein Lied – „Unser Lied!“ – und schon ändert sich die Atmosphäre. Da findet die Frau beim Umsortieren der CDs die Aufnahmen von Joan Armatrading, deren Stücke in den ersten Wochen nach ihrer Trennung vom Ehemann ununterbrochen liefen. Oder da hört der Vater, als er sein Kind im Kindergarten abholt, das Kinderlied, das sein früh verstorbener Vater immer mit ihm gesungen hat, und wird überwältigt von Trauer. Dass musikalische Biografie in jedem Menschen existiert und dass sie eine Wirkung im Alltag haben kann bzw. hat, ist keine Erfindung der MusiktherapeutInnen, sondern Lebenserfahrung. MusiktherapeutInnen können sich diese Erfahrung zu Nutze machen.

      Für MusiktherapeutInnen ist zuerst einmal wichtig zu wissen, dass sie selbst und ihre KlientInnen eine musikalische Biografie haben. Daraus können sie die Sicherheit und das Selbstbewusstsein ziehen, dass Musiktherapie bei ihnen und bei anderen einen Boden hat, etwas, woran sie anknüpfen können. Die eigene musikalische Biografie zu kennen und die der KlientInnen kennen zu lernen, ermöglicht Zugänge zu Mustern und Zugänge zu Wegen der Veränderung (s. a. Frohne-Hagemann, 2001, S.175ff). Einige der Möglichkeiten und Aspekte, mit denen musiktherapeutisch auf die musikalische Biografie Bezug genommen und mit ihr gearbeitet werden kann, möchten wir im Folgenden beleuchten.

      Eine Klientin bzw. ein Klient oder die TeilnehmerInnen einer Gruppe bekommen die Aufgabe:

      „Stellen Sie sich eine eigene Musikkassette oder eine eigene CD mit dem Titel ,Mein Leben’ zusammen. Diese CD sollte chronologisch angeordnet sein, also mit der Zeit um Ihre Geburt herum beginnen und bis heute reichen. Sie kann musikalische Aufnahmen enthalten, die für Sie in bestimmten Lebensphasen wichtig waren, oder Musikstücke, die für einen bestimmten Zeitabschnitt ihres Lebens ,stehen’.“

      Um diese Arbeit zu leisten und solch ein musikalisches Lebenspanorama zu erstellen, braucht es mindestens vier Wochen Zeit. Der Zeitraum ist nicht nur notwendig für die technischen und organisatorischen Tätigkeiten (Musikstücke suchen, sie aufnehmen usw.), sondern vor allem für den inneren Prozess der Beschäftigung mit dem bisherigen Leben und der musikalischen Biografie. Oft entstehen schnell erste Ideen, verändern sich dann aber, anderes kommt hinzu, manches wird weggelassen. Unbeachtetes tritt gewichtig und tönend in den Vordergrund, „zufällig“ begegnet man der Musik, die „passt“.

      Diese Arbeit kann die Intensität und die Mühe annehmen, die mit dem Schreiben eines biografischen Romans vergleichbar sind. Nicht nur die Erinnerung an vergangene Zeiten, sondern gerade auch an das Erleben, das in diesen Zeiten vorherrschend war bzw. mit diesen Zeiten verknüpft ist, wird wieder lebendig.

      Die CD bzw. MC, die aus diesem Prozess heraus entsteht, ist häufig ein buntes Stil-Durcheinander. Da steht die Operetten-Melodie, die sonntagnachmittags beim gemeinsamen Fernsehschauen mit den Eltern erklang und diese Zeit repräsentiert, neben dem Jimmy Hendrix der aufbrechenden Jugendzeit. Da hört man John Cage für die Schlusszeit der ersten Ehe („Da gab es keine Musik“) neben den Kinderliedern des Gripstheaters, die man mit den eigenen Kindern geschmettert hat. Da repräsentieren harte Punkstücke die Studienzeit („Bis die Prüfungen begannen“) und die Ouvertüre der Zauberflöte die frühe Kindheit („Meine ersten Jahre waren wie Mozart, bis wir umzogen“).

      In der Arbeit an der Kassette oder CD „Mein Leben“ erklingt das eigene Leben. Klänge, Bilder, Gefühle, Erfahrungen werden lebendig, ziehen an den KlientInnen vorbei und berühren sie. Diese Erfahrung kann schmerzhaft sein oder beglückend, in jedem Fall ist sie ein wichtiger Erlebnis- und Erfahrungsprozess. Manche KlientInnen berichten, sie hätten ihr Leben „neu sortiert“. Andere sagen: „Ich habe mich gehört und ich habe mir wirklich zugehört.“

      Damit dieser Erfahrungs- und Arbeitsprozess nicht uferlos wird, bedarf es eines Rahmens. Es hat sich bewährt, einen Zeitrahmen zu setzen, in dem die CD oder MC erstellt werden muss, auch wenn sie der Klientin oder dem Klienten dann noch unfertig erscheint. Und es hat sich ferner als günstig erwiesen, für das Volumen der aufgenommenen Musikstücke einen Rahmen zu setzen. Sinnvoll sind unserer Erfahrung nach etwa 60 Minuten (auch wenn manche KlientInnen dann noch bis 90 Minuten „überziehen“: „Das ging nicht anders …“ – was dann ja in Ordnung ist).

      Ein solch aufregender Prozess bedarf der Spiegelung. KlientInnen haben etwas erstellt, haben damit sich, ihr Leben und Erleben präsentiert und hörbar gemacht. Nun wollen sie, dass andere es hören, und sind manchmal gleichzeitig scheu oder ängstlich, was denn die anderen dazu meinen, ob das, was sie selbst erstellt haben, überhaupt zumutbar ist usw. Die Einzeltherapie oder die therapeutische Arbeit in der Gruppe ist hierfür ein geeigneter geschützter Rahmen. Wenn Klientinnen oder Klienten hier nach und nach ihre musikalische Biografie vorspielen, hören Therapeut oder Therapeutin bzw. auch die anderen GruppenteilnehmerInnen vieles aus deren Leben. Dies bedarf des Interesses und der Zeit und ist nie Sache nur einer Therapiestunde bzw. einer einzigen Aktion. Die musikalische Biografie bietet so viel reichhaltiges Material, dass auch später an sie angeknüpft und mit ihr auf verschiedene Art und Weise weiter gearbeitet werden kann.

      Auch der folgende Weg ist methodisch wie unser erster Vorschlag eine Panoramatechnik. Das Panorama ist ein Bild, über das man den Blick schweifen lassen kann, in der Malerei zumeist die große und breite Ansicht einer Landschaft oder eines historischen Ereignisses, z. B. einer Schlacht. Der Blick kann, wie gesagt, schweifen, hier oder dort verweilen, einmal diesen und einmal jenen Aspekt genauer in Augenschein nehmen. Wie bei der eben beschriebenen Methode lädt auch die folgende Methode dazu ein; im feinen Unterschied zur vorherigen, die Leben und Erleben musikalisch umgesetzt wissen wollte, liegt hier der Fokus eindeutig auf der musikalischen Biografie. Wir fordern z. B. die TeilnehmerInnen einer Gruppe auf:

      „Legt eine Liste an und sammelt in den nächsten Wochen zehn Ereignisse, Musikstücke oder Gegenstände aus eurer musikalischen Biografie und schreibt sie auf. Das können Erinnerungen sein, die mit eurer musikalischen Biografie in Verbindung stehen, oder Musikstücke, die ihr gespielt oder gehört habt, die euch in irgendeiner Weise wichtig waren, Instrumente oder Gegenstände, die ein musikalisches Ereignis repräsentieren. Bringt dann drei davon mit – sozusagen ,the best of …’. Wählt also aus, welche drei euch am wichtigsten sind. Bringt die Musik z. B. auf Kassette oder CD mit, so dass ihr sie hier vorspielen könnt, oder bringt die Gegenstände mit, die mit einem Ereignis verbunden sind.“

      Auch hier ist es wichtig, Zeit zu lassen und gleichzeitig einen Rahmen vorzugeben. Die KlientInnen oder GruppenteilnehmerInnen denken häufig, dass ihnen keine zehn Musikstücke oder Ereignisse einfallen, doch dann, wenn sie erst einmal angefangen haben, ihr Gehör, ihren Blick, ihre Erinnerungen schweifen zu lassen, kommt eins zum anderen, fällt ihnen viel mehr ein, als sie vorher vermutet haben. Schwierig – und besonders wichtig – ist dann der Prozess, die drei wichtigsten Musikstücke, Ereignisse etc. (The best of) auszuwählen. Was ist nur nette Erinnerung und was hat wirklich Bedeutung für mich und mein Leben – diese Fragen gilt es zu beantworten. Das Spektrum der Musikstücke, die ausgewählt werden, ist ähnlich breit, wie vorhin beschrieben. Auch die Gegenstände, die mitgebracht werden, sind sehr unterschiedlich, manche haben unmittelbaren musikalischen Bezug, z. B. das Instrument oder der alte kaputte Geigenbogen („mein


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