Es ist später, als du denkst. Rolf ArnoldЧитать онлайн книгу.
sich eine solche gereifte Haltung von dem bloßen Und-so-weiter? Ertragen wir mit ihr die Fülle der ungereimten und unlösbaren Fragen – das Absurde unserer Existenz – leichter?
Das Absurde ist die Unerklärbarkeit des Menschseins. Als Begriff hat es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die philosophische Suche nach dem Absoluten im Wesentlichen abgelöst. Die Philosophie ist seitdem weniger transzendent – d. h. um die Klärung der »letzten Fragen« bemüht – unterwegs, sondern widmet sich verstärkt der Frage nach dem Aushalten und der Gestaltung des eigenen Lebens und Überlebens auf dem »Raumschiff Erde« (Fuller 1984). Das Absurde steht zwar immer noch für die Unfassbarkeit von Unvernunft, Leid und Barbarei, doch zerbröseln die Hoffnungen, die wir an das Absolute richteten. Von diesen Hoffnungen geht gleichwohl auch weiterhin eine verführerische Kraft aus. Nur schwer können wir von ihnen lassen, da etwas in uns nicht aufhören kann, davon zu träumen, dass das Dasein einen Sinn haben möge und sich unsere Bemühungen und unsere Wohlanständigkeiten dereinst auszahlen würden. Hierauf bezieht sich bereits eine frühe Argumentation, die in der Überlieferung dem griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.) zugeordnet wurde:
»Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was Gott ebenfalls fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?« (zit. nach Hober 2001, S. 14)
Wie können wir angesichts solcher Ungeklärtheit leben, überleben und gar zusammenleben? Wie können wir den Glauben an das Gute und Vernünftige bewahren, wo wir doch ganz offensichtlich nicht aus unserer Haut heraus können. Wir leben in den überlieferten Gewissheiten, oft ohne diese wirklich zu durchdringen und ohne Bewusstsein darüber, welchen historischen Kämpfen und geistigen Anstrengungen sich diese verdanken. Gleichzeitig spüren wir ständig – wie uns bereits Albert Camus (1913–1960) eindrücklich in Erinnerung rief –, »dass die Geschichte nicht alles ist« (Camus 2009, S. 36). Dies gilt auch für unsere persönliche Geschichte. Sie kann uns entgleiten, was »nicht daran liegt, dass ich sie nicht mache, sondern dass der andere sie auch macht!« (Sartre 1960, S. 123).
Welche Haltung entspricht einem gereiften Umgang mit dieser Unvollständigkeit und Unbegreifbarkeit sowie diesem Ungeborgensein des menschlichen Seins? Müssen wir diese Haltung wirklich entwickeln? Stimmt es (für uns), dass es gerade in unserem multioptionalen Leben um »Ankunft, nicht Steigerung« (Schulze 2016, S. 10) gehen sollte, d. h. um »das gute, vernünftige und freie Leben, nicht (um) die Erweiterung von dessen Möglichkeitsraum als Selbstzweck« (ebd.). Sind die Abschiede eines solchermaßen gereiften Lebens weniger endgültig als die eines um beständige Steigerung bemühten? Wem nützt diese Haltung, wenn sie nicht wirklich vor dem Tode zu schützen vermag? Fragen über Fragen, auf die es keine generalisierbaren Antworten gibt. Die einzigen Profiteure einer gereiften Haltung gegenüber dem Absurden sind wir selbst, indem wir lernen können, das Leben nicht nur auszuhalten, sondern es zu gestalten, um uns letztlich auch verabschieden zu können: Schritt für Schritt – fröhlich und beherzt ausschreitend. Dadurch können wir uns mit dem Absurden arrangieren, es in unser Leben hineinnehmen – nicht als fulminante Denkfigur, sondern als leise Geste. Die restbiografische Reflexion ist ständiger Anlass für das Einüben dieser Geste. Albert Camus weiß:
»Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« (Camus 2004, S. 160)
Mein nachdenklicher Freund hatte über viele Jahre folgende Strategie entwickelt, um seine Restbiografie bewusster zu durchleben: In seinem Tagebuch hatte er dem Datum seiner Einträge eine Art Countdown hinzugefügt. Von einer geschätzten Lebenserwartung von 75 Jahren ausgehend, fügte er stets die Anzahl der bereits gelebten Tage und die der ihm bis zu seinem 75. Geburtstag noch verbleibenden Jahre hinzu. So lebte er stets im Bewusstsein der statistisch gesehen noch »übrigen« Tage. Erst der Hinweis darauf, dass er damit auch die – in diesem Fall tödliche – Wirkung einer »selbsterfüllenden Prophezeiung« (vgl. Watzlawick 2009) auslösen könne, brachte ihn zum Nachdenken, und er kam von dieser Praxis wieder ab.
Der Mensch kennt sein Schicksal – zumindest im Groben. Und doch weicht er diesem meist aus: Es ist nicht populär, mit dem eigenen Ende zu rechnen. Und es ist auch nicht aufbauend. Deshalb lassen viele den unangenehmen Gedanken, dass alles dereinst und vielleicht gar bald zu Ende sein kann, nicht dauerhaft in das Haus ihrer Lebensgestaltung einziehen. Und doch mehren sich auch in ihrer Lebenswelt die Abschiede. Sie können über diese nicht hinwegsehen. Es trifft nicht bloß die anderen. In den Sterbenden sehen wir vielmehr unsere eigene Zukunft. »Morituri te salutant!«, begrüßten die römischen Gladiatoren Cäsar, bevor sie in den sicheren Tod zogen. »Die sterben werden, grüßen dich!« – ein Weckruf an uns selbst, den wir uns zu eigen machen sollten. »Als jemand der sterben wird, muss ich feststellen …« oder »als jemand der sterben wird, bin ich ganz anderer Meinung …« oder schließlich »als jemand der sterben wird, lasse ich mich grundsätzlich nicht provozieren und zerschlage auch nicht das Porzellan unserer Beziehung …« – eine Art, sich zu artikulieren, die nicht zu jedem Anlass Stellung nimmt, aber auch in anderer Weise Konflikte unterläuft oder diesen ausweicht, auf alle Fälle sehr zurückhaltend – aber in dieser Zurückhaltung sehr bestimmt – in Eskalationen agiert. Wer solche Formulierungen zumindest in seinem inneren Monolog als Mantra pflegt, der steht nicht mehr automatisch für alle Dialoge und Debatten zur Verfügung. Er vermag sich zu entziehen, indem er die Anliegen, die an ihn herangetragen werden, zunächst »siebt«, bevor er sich ihnen widmet. Ähnliches berichtet die folgende Geschichte:
Die drei Siebe des Sokrates
Eines Tages kam ein Bekannter zum griechischen Philosophen Sokrates gelaufen.
»Höre, Sokrates, ich muss dir berichten, wie dein Freund …«
»Halt ein«, unterbrach ihn der Philosoph.
»Hast du das, was du mir sagen willst, durch drei Siebe gesiebt?«
»Drei Siebe? Welche?«, fragte der andere verwundert.
»Ja! Drei Siebe! Das erste ist das Sieb der Wahrheit. Hast du das, was du mir berichten willst, geprüft, ob es auch wahr ist?«
»Nein, ich hörte es erzählen, und …«
»Nun, so hast du sicher mit dem zweiten Sieb, dem Sieb der Güte, geprüft. Ist das, was du mir erzählen willst – wenn es schon nicht wahr ist –, wenigstens gut?«
Der andere zögerte. »Nein, das ist es eigentlich nicht. Im Gegenteil …«
»Nun«, unterbrach ihn Sokrates. »So wollen wir noch das dritte Sieb nehmen und uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so zu erregen scheint«.
»Notwendig gerade nicht …«
»Also«, lächelte der Weise, »wenn das, was du mir eben sagen wolltest, weder wahr noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste weder dich noch mich damit.« [1]
Diese drei Siebe erleichtern die eigene Fokussierung: Wenn es uns gelingt, uns nur den Themen und Anliegen zu widmen, die übrig bleiben und von Gewicht sind, kann es uns gelingen, der restbiografischen Perspektive im eigenen Denken, Fühlen und Handeln zum Ausdruck zu verhelfen.
Spätestens beim Tod der Eltern rückt dem Menschen diese Perspektive unabweisbar auf den Leib: »Wo sie hingehen, wirst auch du dereinst hingehen!« – so die in uns klingende Gewissheit beim Blick in ihr Grab. Zahlreiche Denker haben diese grundlegende Ernüchterung zum Anlass genommen, über die Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen nachzudenken. Anderen, wie beispielsweise den Existenzialisten, war genau diese Perspektive Grund genug, dem Tod ein trotziges »Dennoch« entgegenzuschleudern. So etwa