Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
und die Entfaltung des Atems zu unterstützen. Die auf Kontakt gerichtete Intentionalität bringt Ordnung in das intersubjektive Chaos. Wenn der Pfeil der Intentionalität seinen Schwung verliert und zu Boden fällt, wird er von der TherapeutIn wieder aufgehoben, die ihm neue Energie verleiht. Momente vollständigen Kontakts lassen sich nicht vorhersagen: Wir wissen nicht, wann sie auftauchen, in welcher Minute oder Sekunde des Kontaktes. Sie tauchen jedoch nicht zufällig auf: Die TherapeutIn hilft beim Zustandekommen dieser Momente, indem sie die Intentionalität der PatientIn unterstützt, die sich Sekunde um Sekunde entfaltet und auf die Intentionalität der TherapeutIn trifft (Bloom 2009, 2011a).
Der therapeutische Prozess orientiert sich an der Intentionalität. Ein Verlust des Schwungs, ein Abfallen oder eine Störung in der Intentionalität veranlassen die TherapeutIn zu intervenieren: Auch Ruhe, Reglosigkeit oder eine kaum wahrnehmbare Bewegung können Interventionen darstellen. Die Intervention ist auf die »Fertigstellung« einer Gestalt ausgerichtet und unterstützt das Potenzial, das bereit ist, in Erscheinung zu treten. Wie bemerkt die TherapeutIn eine Bewegung oder Unterbrechung der Intentionalität? Sie muss an der Kontaktgrenze anwesend sein, mit wachen Sinnen und achtsam den körperlichen, gefühlsmäßigen und kognitiven Resonanzen gegenüber. Diese Resonanzen tauchen nur verschwommen auf. Sie zeigen sich nicht durch einen kognitiven Prozess, sondern brauchen Zeit um sich zu entfalten und können nur durch eine spätere Reflexion erkannt werden.
Ein entscheidendes Kriterium leitet diese Achtsamkeit: das ästhetische Kriterium (Joe Lay, in Bloom 2003), das TherapeutIn und PatientIn zur Ko-Kreation einer guten Kontakt-Gestalt führt.
An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass bei diesem diagnostischen Ansatz kein Vergleich zwischen dem Modell eines Phänomens und dem Phänomen selbst gezogen wird, wie es bei diagnostischen Landkarten der Fall ist. Hier haben wir die Wahrnehmung der Fluidität und Anmut, dessen, was passiert oder eben nicht passiert. Daran orientiert sich die TherapeutIn, wenn sie ihr Mit-der-PatienIn-Sein anpasst. Es ist ein falscher Ton, ein Pinselstrich an der falschen Stelle, eine Berührung zu viel oder zu wenig, ein bisschen zu früh oder ein bisschen zu spät. Es ist kein von vornherein feststehendes Modell, das uns leitet, sondern die einzigartigen, speziellen ästhetischen Qualitäten einer menschlichen Beziehung in dieser bestimmten Situation. Genauso wie wir einen falschen Ton erkennen, spüren wir, dass sich in wechselseitigen Antworten etwas nicht am richtigen Ort oder zur richtigen Zeit befindet oder so undefinierbar seltsam oder erschöpft ist.
Die Dreh- und Angelpunkte dieses diagnostischen »Sekunde für Sekunde«-Ansatzes liegen im Hier (dem Erleben des Raums) und Jetzt (dem Erleben der Zeit) der gelebten Erfahrung, wie sie an der Kontaktgrenze stattfindet. Die TherapeutIn ist die feine Nadel in diesen Seismographen, die (durch individuelle Resonanzen) die Veränderungen der ästhetischen Werte einer Beziehung im Hier und Jetzt aufzeichnen, und keine individuellen Parameter. Die TherapeutIn prüft diese Veränderungen und positioniert sich laufend in Beziehung zu ihnen, in sensorieller und körperlicher Einheit. Auf diese Weise vollzieht die TherapeutIn nicht nur die intrinsische diagnostische Handlung, sondern auch die therapeutische Handlung selbst: Dies bildet die Einheit der diagnostischtherapeutischen Handlung (Perls / Hefferline / Goodman 1985; Bloom 2003). Wenn sie die Unterbrechung der Intentionalität wahrnimmt, positioniert sich die TherapeutIn in der Beziehung neu, leitet und heilt sie, Moment für Moment.
3. Extrinsische oder Landkartendiagnose4
3.1 Müssen wir eine Diagnose stellen?
Der Therapeut braucht seine Konzeption, um Kurs zu halten und um zu wissen, in welche Richtung er schauen soll. Der erworbene Habitus bildet hier den Hintergrund für diese Kunst, wie bei jeder anderen Kunst auch: Wie nutzt man diese Abstraktion (und daher diese Fixierung), damit man die gegenwärtige Situation – und vor allem den gegenwärtigen Prozess – nicht aus den Augen verliert? Und wie – und dies ist ein besonderes Problem, das die Therapie mit der Pädagogik und der Politik gemein hat – vermeidet man es, eine Norm durchzusetzen, statt dem anderen zu helfen, sein Potenzial zu entwickeln? (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 310)
In ihrer theoretischen Grundlage und historischen und klinischen Entwicklung betrachtet die Gestalttherapie die therapeutische Beziehung als einen Kontaktraum. Durch Kontakt lassen Subjekte eine authentische, einzigartige und ko-kreierte Beziehung entstehen, die sie wiederum formt und ausmacht. Das Ziel der therapeutischen Beziehung ist es, in diesem Modell, die Kontaktintentionalität5 zu unterstützen, um gemeinsam eine neue nährende Erfahrung zu schaffen, an der die PatientIn wachsen kann. Sie wird auf keine Weise objektiviert. Objektivierung würde zum irreparablen Verlust der Anwesenheit des/der anderen führen und wäre der Richtung, in die sich die Gestalttherapie bewegt, diametral entgegengesetzt. Vor diesem beziehungsorientierten Horizont wird die Diagnose zum Problem.
Das Misstrauen, das GestalttherapeutInnen Diagnosen gegenüber hegen, ist ein deutlicher Hinweis auf das Risiko, Experten und Expertinnen für das Leben unserer PatientInnen zu werden. Die Diagnostik birgt das Risiko, unser Bild der PatientIn zu behandeln und der PatientIn nicht zu begegnen. Dennoch ist es wichtig, uns klarzumachen, dass wir gar nicht umhinkönnen, eine Art von Diagnose zu stellen. Jede Erfahrung ist im Moment ihrer Geburt willkürlich, austauschbar, amorph und chaotisch (Melnick / Nevis 1998). Es ist eine grundlegende menschliche Neigung, jede Erfahrung in eine bedeutsame Struktur zu organisieren. Wir organisieren unsere Erfahrung der Anwesenheit anderer Menschen, wir geben dieser Erfahrung einen Namen, wir geben ihr eine Struktur.6 Wir benennen unsere Umgebung ständig. Als TherapeutIn müssen wir dabei jedoch den Nutzen für die PatientIn im Auge behalten und den Prozess der Diagnosestellung fortlaufend reflektieren.
Wenn eine TherapeutIn auf eine PatientIn trifft, begegnet sie einer Unmenge komplexer Informationen. Diese Informationen stammen aus unterschiedlichen Quellen: die Sinne der TherapeutIn, ihre eigenen emotionalen und körperlichen Erfahrungen, an die sie sich in der Sitzung erinnert, und theoretische Konzepte und Annahmen, die sie im Laufe ihrer Ausbildung integriert hat. Um all diese Information zu verarbeiten braucht eine TherapeutIn Filter und Konzepte, die ihr helfen, sie so zu ordnen, dass sie eine Bedeutung vermitteln. Dies ist notwendig für eine gute Therapie, für einen Kontakt, der heilend und nicht retraumatisierend ist, für die Bestimmung realistischer Behandlungsziele und -methoden und auch als Grundlage für eine verantwortungsvolle Kreativität seitens der TherapeutIn.
Es ist unvermeidlich, dass GestalttherapeutInnen, die in einem klinischen Setting arbeiten (z. B. in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, in der Psychiatrie in der ambulanten psychiatrischen Versorgung) lernen, sich dem Leiden ihrer PatientInnen aus mindestens zwei Richtungen zu nähern. Einerseits ist es für GestalttherapeutInnen selbstverständlich, von der beziehungsorientierten, dialogischen Feldperspektive aus zu arbeiten. Wenn sie jedoch ausschließlich von diesem Standpunkt aus ansetzen, werden sie schwerlich eine gemeinsame Sprache mit ihren Kollegen finden, die ihre Ausbildung in einem medizinischen System absolviert haben. Es wird ihnen vielleicht auch nicht gelingen, ein Arbeitsbündnis mit ihren Patienten und PatientInnen zu entwickeln, da sie mit Erwartungen zu ihnen kommen, die vom medizinischen Paradigma beeinflusst sind. GestalttherapeutInnen in der klinischen Praxis müssen daher auch mit der Perspektive der aktuellen psychiatrischen Diagnosesysteme und psychopathologischen Theorien vertraut sein. Die medizinische und die gestalttherapeutische Perspektive repräsentieren Polaritäten in der täglichen Arbeit von GestalttherapeutInnen in der klinischen Praxis, die in der Spannung zwischen diesen beiden Polen ihren Platz finden müssen. Wenn sich eine der Perspektiven als Figur herausbilden, die andere in den Hintergrund treten und sie ihre Positionen je nach Situation tauschen können, bereichern sie sich gegenseitig.
Die Diagnose hilft der TherapeutIn, sich zu orientieren und bewusst zwischen therapeutischen Arbeitsweisen mit unterschiedlichen Patienten zu unterscheiden. GestalttherapeutInnen sollten nicht stagnieren und sich nur auf die Beobachtung der gegenwärtigen Interaktionen konzentrieren, sondern auch fähig sind, Arbeitshypothesen für Langzeit- und Kurzzeittherapien aufzustellen (Mackewn 1999).
3.2. Geschichte und Kontext der psychiatrischen Diagnose
Diagnose kommt vom Griechischen dia-gnosi, was »wissen durch« bedeutet (Cortelazzo / Zolli 1983). Der Begriff selbst deutet