Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Kommentar von Bertram Müller
33. Gewalttätiges Verhalten (Dieter Bongers)
Kommentar von Bernhard Thosold und Beatrix Wimmer
Ergänzende Literatur zur deutschen Ausgabe
Vorwort zur englischen Ausgabe
Ein gestalttherapeutisches Handbuch zur Psychopathologie, das einen beziehungsorientierten Ansatz zu diesem komplexen Thema fördert! Dies ist ein bahnbrechendes und revolutionäres Buch. Neue Wege zu beschreiten ist immer von Kontroversen begleitet, und ich bin sicher, das wird bei diesem Buch nicht anders sein unter GestalttherapeutInnen und unter PsychiaterInnen und PsychologInnen, die sich am traditionelleren medizinischen Modell der Psychopathologie orientieren. GestalttherapeutInnen der ersten Generation wären wahrscheinlich schockiert und überrascht zu sehen, dass die Gestalttherapie bei schweren Störungen und Diagnosen wie Borderline oder Narzissmus angewandt wird. AnhängerInnen des medizinischen Modells andererseits werden es schwierig finden, manche Konzepte und Gedanken zu integrieren, wie z. B. die Tatsache, dass die Psychopathologie an der Kontaktgrenze entsteht, oder die Idee einer prozessorientierten ästhetischen Diagnose. Doch diese revolutionären Ideen werden hoffentlich einen Einfluss auf bestehende Ansichten zu Behandlung und Psychopathologie haben und dabei helfen, der Gestalttherapie eine Stimme im allgemeinen Dialog zu schwereren Störungen verleihen.
Die Gestalttherapie beschäftigte sich ursprünglich damit, das Wachstum des Selbst und eine größere Autonomie bei neurotischen Persönlichkeiten zu fördern. Als Teil der Dritten Kraft der Humanistischen Psychotherapien war sie Teil einer neuen kulturellen Bewegung. Die Gestalttherapie förderte eine Unterstützung der Autonomie und Kreativität bei Individuen, die das Bedürfnis verspürten, sich vom erstickenden gesellschaftlichen »Sollte« und von Familienintrojekten zu befreien. Selbstausdruck, Wachstum und Persönlichkeitsentfaltung waren die therapeutischen Ziele.
Der gestalttherapeutische Ansatz entwickelte sich, ohne schwereren Formen des Leidens und der Psychopathologie große Beachtung zu schenken. Die Gestalttherapie wurde nicht entwickelt, um schwerere Störungen wie Psychose, Selbstverletzung oder schwere Traumata und Persönlichkeitsstörungen wie Borderline oder Narzissmus zu behandeln. Perls pries die Gestalttherapie als Therapie der Wahl für »neurotische« Individuen an, doch er war sich offenkundig darüber im Klaren, dass er Gestalt-Techniken nicht bei psychisch schwer kranken Individuen anwenden konnte.
Außerdem wurde die Gestalttherapie von vielen lediglich mit Techniken in Verbindung gebracht ohne den theoretischen Hintergrund, der ihre Praxis leitete. Sie verbreitete sich durch Workshops und Selbsterfahrung. Forschung und theoretische Entwicklung wurden mit Skepsis betrachtet, und die akademische Arbeit zur Gestalttherapie hat darunter gelitten. Das Bild der Gestalttherapie entwickelte sich dahingehend, dass sie als Wachstumstherapie und als auf schwere Störungen nicht anwendbar gesehen wurde.
Die Sicht auf die Gestalttherapie, die in diesem Buch geboten wird, ist erfrischend anders. Dieses Buch ist revolutionär in seinem Bemühen, das Thema der Psychopathologie aus einer gestalttherapeutischen beziehungsorientierten Perspektive zu betrachten, und es bietet eine spezifisch formulierte gestalttherapeutische Sicht auf das Verständnis von Psychopathologie. Es betrachtet die Psychopathologie als ko-kreiertes Feldphänomen, das an der Kontaktgrenze entsteht und das im Kontaktprozess verwandelt werden kann. Es handelt sich um einen lobenswerten Versuch, die Kernkonzepte einer gestalttherapeutischen Theorie der menschlichen Funktionsweise zu erweitern, um psychisch schwer kranke KlientInnen und psychotisches Verhalten zu verstehen.
Bis vor Kurzem gab es einen Mangel an theoretischer Entwicklung und Forschung in der Gestalttherapie, der die Anerkennung dessen, was die Gestalttherapie zu bieten hat, stark eingeschränkt hat. Als erfahrungsorientierte Therapie basierte die Ausbildung zum großen Teil darauf, die persönliche Erfahrung als eine Art des Lernens zu fördern. Dies führte zur Verunglimpfung intellektueller und wissenschaftlicher Zielsetzungen, zu einer Erhöhung des »Learning by doing« und dazu, dass nur das »Wissen durch Erfahrung« geschätzt wurde. Man musste es erleben, um es zu wissen. Dies stimmte mit der gestalttherapeutisch-phänomenologischen Theorie der Praxis überein, doch dieser Ansatz hatte so seine Probleme damit, Theorie und Forschung voranzutreiben. Dieser Ansatz setzte die Gestalttherapie der Gefahr aus, eine esoterische Praxis zu werden und jegliche Anerkennung als ernsthafter akademischer, professioneller und wissenschaftlich gültiger Ansatz zu verlieren. Der theoretische und klinische Ansatz, der in diesem Buch vertreten wird, ist ein Gegenmittel zu diesem Trend.
Mit dem Beginn des weltweiten Rufs nach evidenzbasierter Praxis fing die Gestalttherapie an, ihren Fokus zu verändern, und begann, theoretische Anstrengungen und Forschungsprojekte zu entwickeln und zu unterstützen. Eine anspruchsvolle Abhandlung der Psychopathologie, wie sie in diesen Kapiteln geboten wird, passt zu diesem neuen Weg und zeigt in eine neue Richtung. Meiner Ansicht nach kann es als Hilfe betrachtet werden, um neue Rahmenbedingungen für eine dritte Generation von GestalttherapeutInnen zu schaffen, einen Weg, der ganzheitlicher ist und theoretische Forschung und Praxis in einem phänomenologischen, beziehungsorientierten und empirischen Rahmen integriert.
Die Kapitel in diesem Buch konzentrieren sich auf viele klassische diagnostische Kategorien: Stimmung, Psychose, Persönlichkeit, Essstörungen und Psychosomatik, sexuelle Probleme, gewalttätiges Verhalten und Demenz. Obwohl sie klassische diagnostische Kategorien behandeln, versuchen die AutorInnen dieser Kapitel die Begegnung mit der KlientIn als zentrales Element zu betrachten, und bewahren die Bedeutung der Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung.
Außerdem denke ich, dass dieser Ansatz dazu beitragen wird, einen der wesentlichen Punkte zu fördern, den ich vertrete, nämlich die Bedeutung der von mir Prozessdiagnose genannten Diagnose, die die HerausgeberInnen in ihrem Konzept der intrinsischen oder ästhetischen Diagnose zusammenfassen. Aus dieser Perspektive umfasst die Diagnosestellung die Beobachtung von einem Moment zum nächsten. Auch das Nachspüren, wo sich die KlientIn befindet, gehört dazu, eine funktionale Diagnose, die den nächsten Moment der TherapeutIn leitet. Dabei handelt es sich um eine ko-konstruktive Form der Beteiligung, die im Herzen eine Form der Diagnose ist, die zu einer differenzierten Intervention führt. Dem Prozess zu folgen, ein zentrales Prinzip der Gestalttherapie, ist also kein mystischer oder esoterischer Prozess, wild und kreativ, jenseits von Beschreiben und Verstehen, sondern vielmehr eine disziplinierte Art und Weise, das Offensichtliche zu erkennen, eine Form der Wahrnehmungs-Differenzierung, ähnlich wie bei RadiologInnen, die Scans ablesen, um Phänomene zu entdecken, die darauf hinweisen, dass bestimmte Prozesse im Inneren passieren. Wir sind der Ansicht, dass die Therapie von der Identifizierung bestimmter Marker als Indikatoren innerer Zustände profitiert, die Möglichkeiten für bestimmte Arten von Handlungen seitens der TherapeutInnen aufzeigen, die diesen Zuständen am besten entsprechen. Diagnose und Intervention unter diesem Licht zu sehen, trägt dazu bei, dass die Kunst und Wissenschaft der Psychotherapie gemeinsam in der Ausübung qualifizierter Praxis zusammenkommen.
Ich gratuliere den HerausgeberInnen dazu, einen Band geschaffen zu haben, der zur Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie beiträgt und die Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes zur klinischen Praxis mit komplexen Problemen behandelt.
Leslie Greenberg
Toronto,