Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Johann Gottfried HerderЧитать онлайн книгу.
nur das Minimum von Zeit gedauert, was ihr auf dem Rade des menschlichen Schicksals gegeben werden konnte – dass endlich in der Welt keine zwei Augenblicke dieselbe sind – dass also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen – ich zittre, wenn ich denke, was weise Leute, zumal Geschichtkenner, für weise Einwendungen hierüber machen können! Griechenland bestand aus vielen Ländern: Athenienser und Böotier, Spartaner und Korinthier war sich nichts minder, als gleich – – Trieb man nicht auch in Asien den Ackerbau? Haben nicht Ägypter einmal ebenso gut gehandelt wie Phönizier? Waren die Mazedonier nicht ebenso wohl Eroberer als die Römer? Aristoteles nicht ebenso ein spekulativer Kopf als Leibniz? Übertrafen unsre nordischen Völker nicht die Römer an Tapferkeit? Waren alle Ägypter, Griechen, Römer – sind alle Ratten und Mäuse einander gleich – nein! aber sie sind doch Ratten und Mäuse!
Wie verdrüsslich muss es werden, zum Publikum zu reden, wo man vom schreienden Teile (der edler denkende Teil schweigt!) sich immer dergleichen und noch ärgere Einwendungen und in welchem Tone vorgetragen, versehen muss, und sich’s denn zugleich versehen muss, [38]dass der große Haufe Schafe, der nicht weiß, was rechts und links ist, dem sogleich nachwähne! Kann’s ein allgemeines Bild ohne Untereinander- und Zusammenordnung? kann’s eine weite Aussicht geben, ohne Höhe? Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die du dich vernarrt hast, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so abwechselnder Zeitläufte umfassen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Szene nur Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun – – nennen! Kannst du aber nichts von alledem: die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläuften – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ich’s wie du, dass jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – Schöpfer allein ist’s, der die ganze Einheit, einer, aller Nationen, in all ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne dass ihm dadurch die Einheit schwinde.
II. Also von diesen kleinfügigen Einwendungen, Zweck und Gesichtspunkt verfehlend, hinweg! hingestellt in die Absicht des großen Folgeganzen – wie elend werden »manche Modeurteile unsres Jahrhunderts über Vorzüge, Tugenden, Glückseligkeit so entfernter, so abwechselnder Nationen, aus bloß allgemeinen Begriffen der Schule!«
Ist die menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit: sie muss alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmählichen Kampf immer weiterschreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am [39]meisten oder allein gebildet, wo sie dergleichen Anlässe zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat – in gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlass gibt: vom Übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer andern Mängel haben, Ausnahmen machen, Widersprüche und Ungewissheiten zeigen, die in Erstaunen setzen; aber niemanden, als der sein idealisch Schattenbild von Tugend aus dem Kompendium seines Jahrhunderts mitbringt und Philosophie gnug hat, um auf einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu wollen, sonst keinen! Für jeden, der menschliches Herz aus dem Elemente seiner Lebensumstände erkennen will, sind dergleichen Ausnahmen und Widersprüche vollkommen menschlich: Proportion von Kräften und Neigungen zu einem gewissen Zwecke, der ohne jene nimmer erreicht werden könnte; also gar keine Ausnahmen, sondern Regel.
Sei’s, mein Freund, dass jene kindliche orientalische Religion, jene Anhänglichkeit an das weichste Gefühl des menschlichen Lebens auf der andern Seite Schwächen gebe, die du nach dem Muster andrer Zeiten verdammest. Ein Patriarch kann kein römischer Held, kein griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste sein; und ebenso wenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben oder bitter zu verdammen. Sei’s, dass er nach spätern Vorbildern dir [40]furchtsam, todscheu, weichlich, unwissend, müßig, abergläubisch, wenn du Galle im Auge hast, abscheulich vorkäme: er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters bilden konnte, Patriarch! – hat also gegen alle Verluste späterer Zeiten, Unschuld, Gottesfurcht, Menschlichkeit: in denen er für jedes späte Zeitalter ewig ein Gott sein wird! der Ägypter kriechend, sklavisch, ein Erdtier, abergläubisch und traurig, hart gegen Fremde, ein gedankenloses Geschöpf der Gewohnheit – hier gegen den leichten, alles schön bildenden Griechen, dort gegen einen Menschenfreund im hohen Geschmack unsers Jahrhunderts, der alle Weisheit im Kopfe und alle Welt im Busen trägt – welche Figur! Aber nun auch jenes Unverdrossenheit, Treue, starke Ruhe – kannst du die mit der griechischen Knabenfreundschaft und Jugendbuhlerei um alles Schöne und Angenehme vergleichen? und wieder griechische Leichtigkeit, Tändelei mit Religion, Mangel gewisser Liebe, Zucht und Ehrbarkeit verkennen, wenn du ein Ideal, weiß nicht wessen, nehmen wolltest? Konnten aber jene Vollkommenheiten ohne diese Mängel in dem Maße und Grade ausgebildet werden? Die Vorsehung selbst, siehest du, hat’s nicht gefodert, hat nur in der Abwechslung, in dem Weiterleiten durch Weckung neuer Kräfte und Ersterbung andrer ihren Zweck erreichen wollen – Philosoph im nordischen Erdental, die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der Hand, weißt du es besser als sie?
Machtsprüche Lobes und Tadels, die wir aus einem aufgefundenen Lieblingsvolke des Altertums, in das wir uns vergafften, auf alle Welt schütten – welches Rechtes seid ihr! Jene Römer konnten sein, wie keine Nation; tun, was keiner nachtut: sie waren Römer. Auf einer Welthöhe, und [41]alles rings um sie Tal. Auf der Höhe von Jugend auf, zu dem Römersinn gebildet, handelten in ihm – was Wunder? Und was Wunder, dass ein kleines Hirten- und Ackervolk in einem Tale der Erde nicht eisernes Tier war, was so handeln konnte? Und was Wunder, dass dies wieder Tugenden hatte, die der edelste Römer nicht, und der edelste Römer auf seiner Höhe, im Drange der Not, Grausamkeiten mit kaltem Blute beschließen konnte, die der Hirte im kleinen Tale denn nun wieder nicht auf der Seele hatte. Auf dem Gipfel jener Riesenmaschine war leider! die Aufopferung oft Kleinigkeit, oft Not, oft (arme Menschheit, welcher Zustände bist du fähig!) oft Wohltat. Eben die Maschine, die weitreichende Laster möglich machte, war’s, die auch Tugenden so hoch hob, Würksamkeit so weit ausbreitete: ist die Menschheit überhaupt in einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel grenzt an Tal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der römische Triumphator, mit Götterröte gefärbt, ist unsichtbar auch mit Blute getüncht: Raub, Frevel und Wollüste sind um seinen Wagen: vor ihm her Unterdrückung: Elend und Armut zieht ihm nach. – Mangel und Tugend wohnen also auch in diesem Verstande in einer menschlichen Hütte immer beisammen.
Schöne Dichtkunst, ein Lieblingsvolk der Erde, in übermenschlichen Glanz zu zaubern – auch ist die Dichtkunst nützlich, denn der Mensch wird auch durch schöne Vorurteile veredelt – aber wenn der Dichter ein Geschichtschreiber, ein Philosoph ist, wie es die meisten zu sein vorgeben, und die denn nach der einen Form ihrer Zeit – oft ist sie sehr klein und schwach! – alle Jahrhunderte modeln – Hume! Voltaire! Robertsons! klassische [42]Gespenster der Dämmerung! was seid ihr im Lichte der Wahrheit?
Eine gelehrte Gesellschaft unsrer Zeiti gab, ohne Zweifel in hoher Absicht, die Frage auf: »welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?« und verstehe ich die Frage recht, liegt sie nicht außer dem Horizont einer menschlichen Beantwortung, so weiß ich nicht, als zu gewisser Zeit und unter gewissen Umständen traf auf jedes Volk ein solcher Zeitpunkt, oder es war’s nie eines. Ist nämlich wiederum menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert: sie zieht aber überall so viel Glückseligkeit an, als sie kann: ein biegsamer Ton, sich in den verschiedensten Lagen, Bedürfnissen und Bedrückungen auch verschieden zu formen: selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche – (denn was ist dies je anders als die Summe von »Wunschbefriedigungen, Zweckerreichungen und sanftem Überwinden der Bedürfnisse«, die sich doch alle nach Land, Zeit und Ort gestalten?) im Grunde also wird alle Vergleichung misslich. Sobald sich der innerliche Sinn der Glückseligkeit, die Neigung verändert hat: sobald die äußern Gelegenheiten und Bedürfnisse den andern Sinn bilden und befestigen – wer kann die verschiedene Befriedigung verschiedner Sinne in verschiednen Welten vergleichen? den Hirten [43]und Vater des Orients,