Verlaufen in Berlin. David WagnerЧитать онлайн книгу.
einer Prise frisch gemahlenen Espressopulvers verfeinert, das Naturjoghurt morgens mit Müsli und Honig?
Nun stehe ich hier in diesem Supermarkt, in dessen Nähe ich schon so lange wohne, er trägt den Kaiser’s-Schriftzug und das Kaiser’s-Logo (auf dem ich lange Jahre keine Kaffeekanne erkannte, weil Kaffeekannen einfach nicht mehr so aussehen wie auf diesem Logo) noch auf dem Flachdach, über meinem Arm hängt einer der alten, leicht angestoßenen Kaiser’s-Einkaufskörbe aus Kunststoff – und ich weiß nicht, was ich kaufen soll. An den Kassen, ich habe sie Kaiser’s-Rot leuchten sehen, liegen, wie zum Hohn, Kaiser’s-Einkaufstüten, die gewohnten Produkte jedoch fehlen.
Traurig – wie war das noch mit dem Glücksversprechen des Kapitalismus? – bewege ich mich durch die Gänge und finde nicht mehr, was ich suche. Was sonst mit schlafwandlerischer Sicherheit in meinen Korb wanderte, ist aus dem Sortiment verschwunden. Und mir kommt es vor, als wäre damit etwas von mir verschwunden – denn bin ich nicht eigentlich das, was ich kaufe? Bin ich nicht das Produkt all der Produkte, die ich über die Jahre nach Hause getragen und aufgegessen habe? Muss ich nun, mit neuen, ungewohnten Produkten, nicht ein anderer werden? Möchte ich das überhaupt? Womit habe ich das verdient? Ist der Verlust meines Lieblingsjoghurts vielleicht die Strafe dafür, dass ich in den letzten Jahren oft supermarktfremdgegangen bin, in Berlin und anderswo? Habe ich Kaiser’s vernachlässigt?
Als ich mit den lieblos gestalteten Bio-Joghurtbechern an der Kasse stehe, fällt mir ein, dass ich wohl nie wieder die Kaiser’s-Frage nach den Herzen hören werde: »Sammeln Sie Herzen?« – wie oft hat eine Kassiererin das zu mir gesagt? Ich habe fast immer ja gesagt, ja, ich sammle Herzen, ein Hobby, und meine Tochter liebte es, sie in die Sammelbroschüre zu kleben. Verdanken wir nicht die halbe Ausstattung unserer Küche den Kaiser’s-Rabattaktionen? Den großen Bräter, die Wok-Pfanne, zwei Stielkasserollen, mindestens drei Töpfe? Und die Teelöffel, mit denen ich die Vanillejoghurts aß, kamen die nicht auch von Kaiser’s?
Von meiner Lieblingskassiererin – ich kenne und verehre sie seit Jahren, sie kennt mich und weiß wahrscheinlich, was ich sonst immer kaufe – erfahre ich nicht nur, dass es die gewohnten Produkte nicht mehr geben wird, sondern darüber hinaus, dass dieser unser Kaiser’s, in dessen Hülle nun ein Edeka steckt, bald, vielleicht noch in diesem Jahr abgerissen werden soll. Statt des Flachbaus mit der asphaltierten Rampe – die Architektur verrät es, dieses Gebäude stand einst in einem anderen Land und beherbergte eine Ost-Berliner Kaufhalle; Nachbarn, die diesen Kaiser’s »Kaufhalle« nennen, wohnen jedoch nur noch sehr wenige hier – soll eine weitere Luxus-Wohnanlage entstehen. Ob sie »Kaiser’s Hofgarten« heißen wird?
Zuhause, als ich den kargen Einkauf verstaue, finde ich weit hinten im Kühlschrank einen vergessenen Becher Kaiser’s-Naturkind-Vanillejoghurt. Sein Mindesthaltbarkeitsdatum ist schon ein paar Tage überschritten. Ich werde ihn dort stehen lassen. Zur Erinnerung.
2017
P. S. Der Kaiser’s-Supermarkt, für mich noch immer Kaiser’s, obwohl er zuletzt von Edeka betrieben wurde, war die letzte der Kaufhallen, die vom Ost-Berliner Wohnungsbaukombinat zwischen 1971 und 1980 im Prenzlauer Berg errichtet worden waren. Fast baugleiche Exemplare standen am Teutoburger Platz, Marienburger Straße / Ecke Winsstraße und an der Pappelallee. Heute sind sie alle abgerissen und mit Wohngebäuden überbaut.
Von Matthias Dell weiß ich, dass die kleinkriminellen Jungs aus Thomas Heises Prenzlauer-Berg-Dokumentarfilm Wozu denn über DIESE LEUTE einen FILM? um 1976 herum in genau diese Kaufhalle in der Fürstenberger Straße einstiegen, um Alkohol zu klauen, die viel später, erst nach dem Ende der DDR, zu meinem Kaiser’s werden sollte. Seinen letzten Öffnungstag hatte dieser Supermarkt im April 2020. Dann rückten die Bagger an.
DIE 69. MALL
Eröffnungsrabatt! Zehn Prozent! Zwanzig Prozent! Fünfundzwanzig Prozent im Drogeriemarkt!
Zettelverteilerinnen reichen gedruckte Reklame an, neben der Eingangstür klemmt ein Handwerker zwei aus der Wand ragende Kabel ab.
Ich wandere hinein in den karamell-orangefarbenen Innenraum der neuen East Side Mall und entdecke, Überraschung, es gibt einen Saturn, einen Elektrofachmarkt, der Flachbildfernseher und Waschmaschinen ausstellt. Ich betrete die nagelneue und schon veraltet wirkende Verkaufsfläche – möchte aber, trotz aller Eröffnungsangebote, lieber keinen Kühlschrank kaufen.
Und ich staune, welche erlesenen und in Berlin sonst nie gesehenen Geschäfte in dieser Mall Filialen eröffnen: Aldi, McPaper, Nordsee, Deichmann, Rewe. Eine Bioladenkette ist auch dabei, die Versorgung ist gesichert, keine Mangelwirtschaft mehr im Osten.
Glücksräder stehen vor einigen Geschäften, die Kunden des Glücks stehen Schlange. Das traurigste Glücksrad dreht sich vor dem Mobilfunkladen im Untergeschoss. Das heißt, es dreht sich nicht einmal, es ist nur eine Animation auf einem hochkant stehenden Monitor und auf diesem nicht einmal ganz zu sehen. Zu gewinnen gibt es, die Schlange ist zwanzig Meter lang, ermäßigte Vertragsverlängerungen und rote Lutscher. Der Kapitalismus hat nichts zu verschenken. Neben den apathisch anstehenden Glücksrittern turnt eine junge Frau in Sportkleidung, sie tanzt, sie hampelt und wirbelt mit einem pfeilförmigen Schild herum. »Macht xuperdrauf« steht auf dem Pfeil, sie wirbt für das neue Fitnessstudio im Haus.
Es ist gar nicht so leicht, in die 69. Mall von Berlin hineinzufinden. Das auffällig bunte, dunkelrot-orange-grau-weiß-gestreifte Gebäude liegt zwar gut sichtbar an der Warschauer Brücke in Friedrichshain-Kreuzberg, doch gibt es von dieser noch keinen direkten Zugang. Junge Menschen weisen mit großen Schildern den Weg über escherhafte Betontreppen unter der Fahrbahn hindurch. Die Polizei ist auch schon da, mehrere Beamte lehnen am Geländer der Brücke. So groß, dass sie eingreifen müssen, ist der Andrang am Eröffnungstag nicht. Es dauert, bis ich verstehe, dass sie bloß das Brückengeländer bewachen, an dem sie so lässig lehnen. Es versperrt den Zugang zu einem neuen, breiten Fußgängerübergang, der direkt ins Obergeschoss des Einkaufszentrums führen würde. Er darf jedoch nicht freigegeben werden, weil eine Öffnung des Geländers den Bestandsschutz des Bauwerks Warschauer Brücke aufheben würde.
Nach dem Zeitalter der »Center« und dem der »Arkaden« (beziehungsweise »Arcaden«) darf eine Mall in Berlin einfach »Mall« heißen. So wie die vor wenigen Jahren durch Gerichtsverfahren um vorenthaltene Bauarbeiterlöhne berühmt gewordene Mall of Berlin und nun die East Side Mall, die sich den anderen Teil ihres Namens von der nahen East Side Gallery geliehen hat.
»Mall«, erzählt mir ein Freund, soll auf Plattdeutsch »albern« oder »verrückt« heißen. Nun kann sich jeder seinen Reim auf diesen Namen machen.
»Hier wie üblich die Fressmeile«, höre ich einen wohlgenährten Blousonträger sagen.
»Och, noch nich allet fertig«, sagt seine Begleitung.
Und sie hat recht: Wie fast überall im Haus sind auch hier – heißt das Soft Opening? – noch Handwerker bei der Arbeit. Bei Zaddy’s hängen Drähte aus der Decke, bei Vincent Vegan und Goldene Schnitzel brutzelt es hingegen schon. Es riecht nach Fett – ob die Belüftung funktioniert?
Die niedrigen Raumteiler, die den Bereich mit den Tischen in dunkler Holzoptik von dem Anstehbereich trennen, sehen aus, als wären sie aus Sichtbeton – tatsächlich aber besteht ihre Oberfläche aus folienbeschichteten Platten. Und natürlich sind sie hohl. Mir gefällt, dass wie einst falscher Marmor heute falscher Sichtbeton gemalt wird.
Im Essbereich, der hier »Food Court Mahlzeit« heißt, gibt es eine Fensterfront, die Tageslicht einlässt, und dahinter eine schmale Terrasse mit Tischen und Stühlen. Von diesem Balkon geht der Blick auf die große Mehrzweckhalle, die erst nach einem Mobilfunkanbieter und später nach einem Mobilitätsanbieter benannt wurde. Fast alle, die dort ein Konzert oder eine Sportveranstaltung besuchen wollen, alle Eishockey- und Basketballfans, müssen in Zukunft an der Mall vorbei oder können, wie praktisch, durch sie hindurchmarschieren.
Der Blick fällt weiter auf die einfallslose, schuhkartonartige Bebauung des neu eröffneten Mercedes-Platzes. Ich sehe eine Baucontainersiedlung und das Gelände,