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Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang GoetheЧитать онлайн книгу.

Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe


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ist, zu regeln, zu bestimmen und zu entscheiden wissen.

      711. Jeder Denkende, der seinen Kalender ansieht, nach seiner Uhr blickt, wird sich erinnern, wem er diese Wohlthaten schuldig ist. Wenn man sie aber auch auf ehrfurchtsvolle Weise in Zeit und Raum gewähren läßt, so werden sie erkennen, daß wir etwas gewahr werden, was weit darüber hinausgeht, welches allen angehört, und ohne welches sie selbst weder thun noch wirken könnten: Idee und Liebe.

      712. »Wer weiß etwas von Elektricität«, sagte ein heiterer Naturforscher, »als wenn er im Finstern eine Katze streichelt oder Blitz und Donner neben ihm niederleuchten und rasseln? Wie viel und wie wenig weiß er alsdann davon?«

      713. Lichtenbergs Schriften können wir uns als der [119]wunderbarsten Wünschelruthe bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.

      714. In den großen leeren Weltraum zwischen Mars und Jupiter legte er auch einen heitren Einfall. Als Kant sorgfältig bewiesen hatte, daß die beiden genannten Planeten alles aufgezehrt und sich zugeeignet hätten, was nur in diesen Räumen zu finden gewesen von Materie, sagte jener scherzhaft nach seiner Art: »Warum sollte es nicht auch unsichtbare Welten geben?« Und hat er nicht vollkommen wahr gesprochen? Sind die neu entdeckten Planeten nicht der ganzen Welt unsichtbar, außer den wenigen Astronomen, denen wir auf Wort und Rechnung glauben müssen?

      715. Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrthum.

      716. Die Menschen sind durch die unendlichen Bedingungen des Erscheinens dergestalt obruirt, daß sie das Eine Urbedingende nicht gewahren können.

      717. »Wenn Reisende ein sehr großes Ergötzen auf ihren Bergklettereien empfinden, so ist für mich etwas Barbarisches, ja Gottloses in dieser Leidenschaft. Berge geben uns wohl den Begriff von Naturgewalt, nicht aber von Wohlthätigkeit der Vorsehung. Zu welchem Gebrauch sind sie wohl dem Menschen? Unternimmt er, dort zu wohnen, so wird im Winter eine Schneelawine, im Sommer ein Bergrutsch sein Haus begraben oder fortschieben; seine Heerden schwemmt der Gießbach weg, seine Kornscheuern die Windstürme. Macht er sich auf den Weg, so ist jeder Aufstieg die Qual des Sisyphus, jeder Niederstieg der Sturz Vulcans; sein Pfad ist täglich von Steinen verschüttet, der Gießbach unwegsam für Schifffahrt. Finden auch seine Zwergheerden nothdürftige Nahrung, oder sammelt er sie [120]ihnen kärglich: entweder die Elemente entreißen sie ihm oder wilde Bestien. Er führt ein einsam-kümmerlich Pflanzenleben wie das Moos auf einem Grabstein, ohne Bequemlichkeit und ohne Gesellschaft. Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen?«

      718. Auf diese heitere Paradoxie eines würdigen Mannes wäre zu sagen, daß, wenn es Gott und der Natur gefallen hätte, den Urgebirgsknoten von Nubien durchaus nach Westen bis an das große Meer zu entwickeln und fortzusetzen, ferner diese Gebirgsreihe einigemal von Norden nach Süden zu durchschneiden, sodann Thäler entstanden sein würden, worin gar mancher Urvater Abraham ein Canaan, mancher Albert Julius eine Felsenburg würde gefunden haben, wo denn seine Nachkommen, leicht mit den Sternen rivalisirend, sich hätten vermehren können.

      719. Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzutheilen.

      720. Was ich recht weiß, weiß ich nur mir selbst; ein ausgesprochenes Wort fördert selten, es erregt meistens Widerspruch, Stocken und Stillstehen.

      721. Die Krystallographie, als Wissenschaft betrachtet, gibt zu ganz eigenen Ansichten Anlaß. Sie ist nicht productiv, sie ist nur sie selbst und hat keine Folgen, besonders nunmehr, da man so manche isomorphische Körper angetroffen hat, die sich ihrem Gehalte nach ganz verschieden erweisen. Da sie eigentlich nirgends anwendbar ist, so hat [121]sie sich in dem hohen Grade in sich selbst ausgebildet. Sie gibt dem Geist eine gewisse beschränkte Befriedigung und ist in ihren Einzelnheiten so mannichfaltig, daß man sie unerschöpflich nennen kann; deßwegen sie auch vorzügliche Menschen so entschieden und lange an sich festhält.

      722. Etwas Mönchisch-Hagestolzenartiges hat die Krystallographie und ist daher sich selbst genug. Von praktischer Lebenseinwirkung ist sie nicht; denn die köstlichsten Erzeugnisse ihres Gebiets, die krystallinischen Edelsteine, müssen erst zugeschliffen werden, ehe wir unsere Frauen damit schmücken können.

      723. Ganz das Entgegengesetzte ist von der Chemie zu sagen, welche von der ausgebreitetsten Anwendung und von dem gränzenlosesten Einfluß auf’s Leben sich erweis’t.

      724. Der Begriff vom Entstehen ist uns ganz und gar versagt; daher wir, wenn wir etwas werden sehen, denken, daß es schon dagewesen sei. Deßhalb das System der Einschachtelung uns begreiflich vorkommt.

      725. Wie manches Bedeutende sieht man aus Theilen zusammensetzen: man betrachte die Werke der Baukunst; man sieht manches sich regel- und unregelmäßig anhäufen. Daher ist uns der atomistische Begriff nah und bequem zur Hand; deßhalb wir uns nicht scheuen, ihn auch in organischen Fällen anzuwenden.

      726. Wer den Unterschied des Phantastischen und Ideellen, des Gesetzlichen und Hypothetischen nicht zu fassen weiß, der ist als Naturforscher in einer üblen Lage.

      727. Es gibt Hypothesen, wo Verstand und Einbildungskraft sich an die Stelle der Idee setzen.

      728. Man thut nicht wohl, sich allzulange im Abstracten aufzuhalten. Das Esoterische schadet nur, indem es [122]exoterisch zu werden trachtet. Leben wird am besten durch’s Lebendige belehrt.

      729. Für die vorzüglichste Frau wird diejenige gehalten, welche ihren Kindern den Vater, wenn er abgeht, zu ersetzen im Stande wäre.

      730. Der unschätzbare Vortheil, welchen die Ausländer gewinnen, indem sie unsere Literatur erst jetzt gründlich studiren, ist der, daß sie über die Entwickelungskrankheiten, durch die wir nun schon beinahe während dem Laufe des Jahrhunderts durchgehen mußten, auf einmal weggehoben werden und, wenn das Glück gut ist, ganz eigentlich daran sich auf das wünschenswertheste ausbilden.

      731. Wo die Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts zerstörend sind, ist Wieland neckend.

      732. Das poetische Talent ist dem Bauer so gut gegeben wie dem Ritter; es kommt nur darauf an, daß jeder seinen Zustand ergreife und ihn nach Würden behandle.

      733. »Was sind Tragödien anders als versificirte Passionen solcher Leute, die sich aus den äußern Dingen ich weiß nicht was machen?«

      734. Das Wort Schule, wie man es in der Geschichte der bildenden Kunst nimmt, wo man von einer florentinischen, römischen und venetianischen Schule spricht, wird sich künftighin nicht mehr auf das deutsche Theater anwenden lassen. Es ist ein Ausdruck, dessen man sich vor dreißig, vierzig Jahren vielleicht noch bedienen konnte, wo unter beschränkteren Umständen sich eine natur- und kunstgemäße Ausbildung noch denken ließ; denn, genau besehen, gilt auch in der bildenden Kunst das Wort Schule nur von den Anfängen: denn sobald sie treffliche Männer hervorgebracht hat, wirkt sie alsobald in die Weite. Florenz [123]beweis’t seinen Einfluß über Frankreich und Spanien; Niederländer und Deutsche lernen von den Italiänern und erwerben sich mehr Freiheit in Geist und Sinn, anstatt daß die Südländer von ihnen eine glücklichere Technik und die genauste Ausführung von Norden her gewinnen.

      735. Das deutsche Theater befindet sich in der Schlußepoche, wo eine allgemeine Bildung dergestalt verbreitet ist, daß sie keinem einzelnen Orte mehr angehören, von keinem besondern Puncte mehr ausgehen kann.

      736. Der Grund aller theatralischen Kunst wie einer jeden andern ist das Wahre, das Naturgemäße. Je bedeutender dieses ist, auf je höherem Puncte Dichter und Schauspieler es zu fassen verstehen, eines desto höheren Ranges wird sich die Bühne zu rühmen haben. Hiebei gereicht es Deutschland zu einem großen Gewinn, daß der Vortrag trefflicher Dichtung allgemeiner geworden ist und auch außerhalb des Theaters sich verbreitet hat.

      737. Auf der Recitation ruht alle Declamation und Mimik. Da nun bei’m Vorlesen jene ganz allein zu beachten und zu üben ist, so bleibt offenbar, daß Vorlesungen die Schule des Wahren und Natürlichen bleiben müssen, wenn Männer, die ein solches Geschäft übernehmen, von dem Werth, von


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