Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen. Annabel HerzogЧитать онлайн книгу.
Risikofaktoren gelten eine erhöhte psychische Belastung im Zusammenhang mit den somatischen Symptomen, im Sinne von übermäßigen und dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen in Bezug auf die Symptome (Dessel et al. 2016), aktuelles Stresserleben, sowie ein subjektiv als schlecht eingeschätzter eigener Gesundheitszustand (Croicu et al. 2014).
Bei Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen scheinen gleichzeitig vorliegende Angstsymptome und depressive Beschwerden auch mit einer größeren Funktionseinschränkung im Alltag (Leeuw et al. 2015) sowie mit einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (Barsky et al. 2005) verbunden zu sein. Die komorbide Angst selbst kann außerdem ebenfalls weitere belastende somatische Symptome hervorrufen. Panikattacken sind beispielsweise durch Bauchschmerzen, Brustschmerzen, Diaphorese, Schwindel, Dyspnoe, Herzklopfen, Parästhesien und Zittern gekennzeichnet (Tavel 2015).
Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen zeigen auch ein erhöhtes Risiko für Persönlichkeitsstörungen.
komorbide Persönlichkeitsstörungen
Eine Untersuchung ergab, dass bei Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen komorbide Persönlichkeitsstörungen bei 66 % auftraten (Bass / Murphy 1995). In einer weiteren Studie wurden 94 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung anhand strukturierter Interviews untersucht. Dabei erfüllten 61 % die Kriterien für mindestens eine Persönlichkeitsstörung. Die häufigsten Persönlichkeitsstörungen waren dabei die selbstunsicher-vermeidende, die paranoide und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (Rost et al. 1992).
Bezüglich der psychischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass das Ausmaß bislang weitestgehend unbekannt ist, da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden und daher Untersuchungen zu Komorbiditätsraten bislang weitestgehend fehlen. Zum aktuellen Zeitpunkt sind ähnliche Komorbiditätsraten wie bei den somatoformen Störungen anzunehmen.
2.2.2 Psychische Komorbidität bei funktionellen Syndromen
Auch bei den meisten funktionellen Syndromen wurde die psychische Komorbidität untersucht. Für die Rate von Depressionen bei Chronic Fatigue Syndrome finden sich Werte zwischen 19-37 % (Prins et al. 2005), bei Fibromyalgie sind es 62—86 % (Arnold 2008) und beim Reizdarmsyndrom 27-60 % (Folks 2004). Bei den komorbiden Angststörungen sind es entsprechend 13–20 % bei Chronic Fatigue Syndrome (Prins et al. 2005), 26-60 % bei Fibromyalgie (Arnold 2008), 44 % beim Reizdarmsyndrom (Folks 2004).
Interessanterweise findet sich eine psychische Komorbidität bei den funktionellen Syndromen insgesamt häufiger als bei vergleichbaren somatisch definierten Erkrankungen (z. B. Fibromyalgie vs. rheumatoide Arthritis, Reizdarm vs. Morbus Crohn / Colitis ulcerosa; Arnold 2008; Henningsen et al. 2003; Henningsen et al. 2007). Bezüglich der eingeschränkten Funktionalität im Alltag sowie der niedrigeren Lebensqualität sind die Gruppen jedoch gleichermaßen betroffen (Joustra et al. 2015).
Die Komorbidität einzelner funktioneller Syndrome untereinander, d. h. das gleichzeitige Erfüllen der Kriterien mehrerer Einzelsyndrome, ist mit ca. 50 % (10-80 %) ebenfalls als hoch anzusehen. Die Zahlen sind stark von den jeweiligen Syndromdefinitionen und Patientenstichproben abhängig, aber auch in Bevölkerungsstichproben nachweisbar.
2.2.3 Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen
Die Frage nach somatischen Komorbiditäten erhält im Zusammenhang mit den DSM-5- und ICD-11-Diagnosen der somatischen Belastungsstörung, bei der die Ätiologie der Körperbeschwerden für die Diagnosestellung keine Rolle mehr spielt, eine neue Wichtigkeit.
somatoforme Störungen als „Ausschlussdiagnosen“
Die somatoformen Störungen nach DSM-IV und ICD-10 wurden als „Ausschlussdiagnosen“ angesehen, d. h., eine vorliegende organische Erkrankung schließt die Diagnose einer somatoformen Störung mehr oder weniger aus, zumindest wenn dieselben oder ähnliche Beschwerden im Vordergrund stehen. Ein wesentliches Merkmal der somatoformen Störungen sind unklare körperliche Beschwerden, wobei „unklar“ bedeutet, dass durch medizinische Untersuchungen keine körperliche Ursache festgestellt werden konnte, die das Ausmaß der Beschwerden ausreichend erklärt. Von einer klaren Dichotomie „organisch“ versus „nichtorganisch bedingt“ kann jedoch auch hier nicht ausgegangen werden, da auch bei den somatoformen Störungen nach DSM-IV oder ICD-10 die betreffenden Symptome organisch mitverursacht sein können. Nach der ICD-10 sind Symptome z. B. auch dann als „somatoform“ zu werten, wenn die zugrunde liegende körperliche Erkrankung nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundenen sozialen Einschränkungen erklären kann (Kleinstäuber et al., 2016).
Beispiel für eine somatoforme Symptomatik mit somatischen und psychischen Faktoren
Die Patientin beschreibt einen seit etwa 20 Jahren bestehenden und stark ausgeprägten „Ganzkörperschmerz“. Vorbeschrieben sind diagnostisch eine zervikale Stenose mit Zervikalsyndrom (Einengung des Wirbelkanals im Halsbereich, die mit Beschwerden einhergeht) und eine chronische Lumbago (chronische Schmerzen im unteren Rücken). Es bestehen diverse psychosoziale Belastungsfaktoren (Tod des Vaters, Eheprobleme) sowie biografisch belastende Lebensereignisse. Die Stimmungslage der Patientin ist gedrückt, sie fokussiert stark auf die Schmerzen und orientiert ihren Alltag daran. Bisherige orthopädische und physiotherapeutische Behandlungen waren wenig entlastend.
Die angemessene organmedizinische Abklärung der Symptomatik ist dabei Aufgabe des Haus- oder Facharztes. Da die Interpretation medizinischer Befunde vom Fachwissen, der Erfahrung und der Einschätzung und Interpretation der Ärztinnen und Ärzte abhängig ist und sich zudem das medizinische Wissen durch neue Forschungsergebnisse ständig aktualisiert und erweitert, ist die Unterscheidung „organisch bedingter“ versus „nicht organisch bedingter“ Körperbeschwerden tatsächlich nur schwer zu treffen (Kap. 5). Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit der Diagnosekategorie der somatoformen Störungen immer wieder bemängelt, dass eine klare Trennung zwischen „körperlich“ und „psychisch“ auch angesichts der schwachen Zusammenhänge zwischen pathophysiologischen Veränderungen und subjektiven Beschwerden wenig haltbar ist (Mayou et al. 2005).
In den aktuellen Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11 wurde mit der Diagnose der somatischen Belastungsstörung diese Dichotomie entsprechend verlassen; die Ätiologie der Körpersymptome spielt nun für die Diagnosestellung keine Rolle mehr.
somatische Erklärbarkeit nicht mehr relevant
In Fällen, bei denen Patientinnen und Patienten mit einer somatisch definierten Diagnose auch die Kriterien für eine somatische Belastungsstörung erfüllen, können beide Erkrankungen parallel diagnostiziert werden (APA 2013). Der Schlüssel zur Entscheidung, ob bei einem Patienten oder einer Patientin mit einer definierten somatischen Erkrankung auch eine somatische Belastungsstörung vorliegt, liegt in der Feststellung, ob die kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen auf die medizinische Erkrankung bzw. die damit assoziierten Symptome im Vergleich zu den meisten anderen Patientinnen und Patienten mit dieser medizinischen Erkrankung übertrieben, übermäßig oder dysfunktional erscheinen.
Relevanz psychischer Reaktionen auf Symptome
Funktionseinschränkungen (z. B. zwischenmenschliche, berufliche und körperliche Beeinträchtigungen) sind bei Patientinnen und Patienten mit einer medizinischen Erkrankung und zusätzlich vorliegender somatischer Belastungsstörung in der Regel größer als bei Patientinnen und Patienten, bei denen alleine die medizinische Erkrankung vorliegt (Levenson et al. 2018).
Beispiel für eine somatische Belastungsstörung bei organmedizinischer Komorbidität
Bei der Patientin (43 J.) wurde vor drei Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Sie wurde