Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-SchreiberЧитать онлайн книгу.
Ärzten und indianischen Schamanen, habe ich einige wesentliche Einsichten gewonnen, die sich sowohl für meine Patienten wie auch für mich als hilfreich erwiesen haben. Zu meiner großen Überraschung waren es nicht die Methoden, die man mir an der Universität beigebracht hat: Es handelte sich weder um Medikamente noch um Psychoanalyse.
DER WENDEPUNKT
Nichts hatte mich auf diese Entdeckung vorbereitet. Meine Laufbahn als Mediziner hatte ich auf dem Umweg über Wissenschaft und Forschung begonnen. Nach Abschluss meines Studiums kehrte ich der Welt der medizinischen Praxis für fünf Jahre den Rücken und beschäftigte mich mit der Frage, wie die neuronalen Netze Gedanken und Gefühle hervorbringen. Auf dem Gebiet der neurokognitiven Wissenschaften promovierte ich unter der Ägide der Professoren Herbert Simon – einer der ganz wenigen Psychologen, der je einen Nobelpreis erhielt – und James McClelland, einer der Begründer der Theorie der Neuronengeflechte. Die wichtigsten Ergebnisse meiner Doktorarbeit wurden in Science veröffentlicht, der Fachzeitschrift, in der jeder Wissenschaftler seine Arbeiten gern abgedruckt sehen möchte.
Nach dieser streng wissenschaftlichen Ausbildung fiel es mir schwer, in die klinische Praxis zurückzukehren, um meine Facharztausbildung auf dem Gebiet der Psychiatrie abzuschließen. Die Ärzte, bei denen ich mein Metier erlernen sollte, schienen mir in ihrem Vorgehen zu ungenau, zu empirisch. Weit mehr als an der wissenschaftlichen Begründung dessen, was sie lehrten, waren sie an der Praxis interessiert. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, nur Routineverfahren zu lernen und wie man Rezepte ausstellt (bei der und der Krankheit macht man diese und jene Untersuchung, verschreibt die Medikamente A, B und C in dieser oder jener Dosierung so und so lange…) Meiner Ansicht nach war dies alles weit vom Geist des ständigen Hinterfragens und der mathematischen Genauigkeit entfernt, der mir mittlerweile vertraut war. Zur Beruhigung sagte ich mir immer wieder vor, dass ich die Behandlung von Kranken schließlich in der am strengsten forschungsorientierten Psychiatrieabteilung der Vereinigten Staaten erlernte. Innerhalb der medizinischen Fakultät der Universität Pittsburgh erhielt unsere Abteilung von der Regierung mehr Forschungsmittel als alle anderen, einschließlich des renommierten Fachbereichs für Herz- und Lebertransplantation an unserem Krankenhaus. Mit einer gewissen Arroganz betrachteten wir uns als »klinische Wissenschaftler« und nicht als einfache Psychiater.
Wenig später erhielt ich vom National Institute of Health und verschiedenen privaten Stiftungen finanzielle Mittel, die es mir ermöglichten, ein Forschungslabor für Geisteskrankheiten einzurichten. Viel versprechender hätte die Zukunft gar nicht aussehen können: Ich war mir sicher, meinen Hunger nach Fakten und Wissen stillen zu können. Doch in kurzer Zeit sollten einige Erlebnisse meine Sicht der Medizin völlig verändern und mein berufliches Leben umkrempeln.
Da war zunächst eine Reise nach Indien, um in Dharamsala, dem Wohnsitz des Dalai-Lama, mit tibetischen Flüchtlingen zu arbeiten. Dort sah ich die traditionelle tibetische Medizin am Werk, die »einen Verlust des seelischen Gleichgewichts« durch langes Abtasten des Pulses an beiden Handgelenken und eine Untersuchung der Zunge und des Urins diagnostiziert. Die praktischen Ärzte dort arbeiteten nur mit Akupunktur und pflanzlichen Mitteln. Dennoch hatten sie offensichtlich bei einer ganzen Reihe chronischer Krankheiten genauso viel Erfolg wie die abendländische Medizin. Zwei gewichtige Unterschiede gab es allerdings: Die Behandlungen hatten weniger Nebenwirkungen und kamen weit billiger. Als ich meine Tätigkeit als Psychiater überdachte, schien es mir, dass auch meine Patienten vor allem an chronischen Krankheiten litten: Depression, Angstgefühle und Beklemmungen, manisch-depressive Störungen, Stress … Zum ersten Mal begann ich mich zu fragen, warum man mir in meiner Studienzeit diese Verachtung der traditionellen Medizin eingebläut hatte. Gründete dies auf Tatsachen – wie ich immer geglaubt hatte – oder einfach auf Ignoranz? Die Erfolge der westlichen Medizin bei akuten Krankheiten wie Lungenentzündung, Blinddarmentzündung und Brüchen sind unerreicht. Doch bei der Behandlung chronischer Krankheiten, einschließlich Angstzuständen und Depressionen, ist sie alles andere als vorbildlich…
Dann zwang mich ein anderes Erlebnis eher persönlicher Art, mich meinen Vorurteilen zu stellen. Bei einem Besuch in Paris berichtete mir eine Freundin aus Kindertagen, sie habe eine depressive Phase überstanden, die so schlimm war, dass ihre Ehe daran zerbrach. Sie hatte die von ihrem Arzt vorgeschlagenen Medikamente abgelehnt und sich an eine Art Heilpraktikerin gewandt, die sie mittels einer Entspannungstechnik behandelte, die der Hypnose nahe kommt und es ermöglicht, alte, verdrängte Gefühle erneut zu durchleben. Nach einigen Monaten ging es ihr »besser denn je«. Nicht nur war sie ihre Depression los – endlich hatte sie sich von der Last der dreißig Jahre befreit, in denen es ihr nicht gelungen war, den Tod ihres Vater, als sie sechs Jahre alt gewesen war, zu betrauern. Plötzlich legte sie eine Energie, eine Leichtigkeit und Zielstrebigkeit an den Tag, wie ich sie bislang bei ihr nicht gekannt hatte. Ich freute mich für sie, war aber gleichzeitig entsetzt und enttäuscht. In all den Jahren, in denen ich das Gehirn, das Denken und die Gefühle untersucht hatte, um mich auf wissenschaftliche Psychologie, Neurowissenschaften, Psychiatrie und Psychotherapie zu spezialisieren, hatte ich nicht ein einziges Mal derart spektakuläre Heilerfolge erzielt. Und nicht ein einziges Mal war von dieser Art Therapie die Rede gewesen. Schlimmer noch: Die wissenschaftliche Welt, in der ich mich bewegte, entmutigte jegliches Interesse an derlei »ketzerischen« Methoden. Sie galten als Scharlatanerie und waren daher der Aufmerksamkeit wirklicher Ärzte nicht wert, noch viel weniger ihrer wissenschaftlichen Neugierde.
Dennoch, meine Freundin hatte innerhalb weniger Monate unbestreitbar mehr erreicht, als sie von einer medikamentösen oder konventionell-psychotherapeutischen Behandlung hätte erwarten können. In der Tat, hätte sie mich in meiner Eigenschaft als Psychiater aufgesucht, hätte ich ihre Chancen auf eine derartige Veränderung eher als gering eingestuft. Für mich war dies eine große Enttäuschung, doch gleichzeitig ein Ruf zur Ordnung. Wenn ich nach so vielen Studien- und Praktikumsjahren nicht fähig war, jemandem zu helfen, an dem mir so viel lag, wozu war dann dieses ganze Wissen gut? Im Lauf der nächsten Monate und Jahre lernte ich, zahlreichen anderen Behandlungsmethoden aufgeschlossener gegenüberzustehen, und zu meiner großen Überraschung erwiesen sie sich nicht nur als naturgemäßer und sanfter, sondern oft auch als wirksamer.
Jeder der sieben Ansätze, nach denen ich derzeit in meiner Praxis vorgehe, nutzt auf seine Art die Mechanismen der Selbstheilung, die im Geist und im menschlichen Gehirn angelegt sind. Diese sieben Vorgehensweisen wurden streng wissenschaftlichen Beurteilungen unterworfen, die ihre Wirksamkeit bewiesen, und waren Gegenstand zahlreicher Publikationen in internationalen wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Dennoch gehören sie immer noch nicht zum medizinischen Rüstzeug der westlichen Welt, nicht einmal auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie. Hauptgrund für diese Verzögerung ist die Tatsache, dass man die Mechanismen, auf denen ihre Wirksamkeit beruht, immer noch nicht so recht versteht. Für eine Medizin, die sich als wissenschaftlich versteht, ist dies ein gewichtiger, vielleicht sogar legitimer Hinderungsgrund. Gleichwohl nimmt die Nachfrage nach natürlichen und doch wirksamen Behandlungsmethoden stetig zu. Und dafür gibt es gute Gründe.
BILANZ
Die Bedeutung, die mit Stress verbundenen seelischen Störungen in der westlichen Gesellschaft zukommt – darunter Depressionen und Angstzustände –, ist allgemein bekannt. Die Zahlen sind alarmierend:
• Klinische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass hinter 50 bis 75 Prozent aller Arztbesuche vor allem Stress steht1I und dieser in Bezug auf die Sterblichkeit einen größeren Risikofaktor darstellt als Rauchen.2
• Tatsächlich zielt von den Medikamenten, die in den westlichen Ländern am häufigsten eingesetzt werden, die Mehrzahl auf die Behandlung von Störungen ab, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Stress stehen: Antidepressiva, Beruhigungs- und Schlafmittel, Antacida bei Sodbrennen und Magengeschwüren, Mittel gegen Bluthochdruck und solche gegen einen zu hohen Cholesterinspiegel.3
• Laut einem Bericht des Observatoire national du médicament stehen die Franzosen seit etlichen Jahren weltweit mit an der Spitze, was die Einnahme von Antidepressiva und Tranquilizern betrifft.4 Einer von