Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-SchreiberЧитать онлайн книгу.
einen ausgesprochenen Widerwillen gegen derlei Filme empfand, einfach weil ich sie immer wieder ansehen musste. Die junge Frau wurde also in den Scanner geschoben; von Beginn des Experiments an sah ich, wie ihr Herzrhythmus und der Arteriendruck schlagartig anstiegen; dies wies auf eine starke emotionale Belastung hin. Ich fand das beunruhigend, und zwar so sehr, dass ich ihr vorschlug, das Experiment abzubrechen. Erstaunt erklärte sie, es gehe ihr sehr gut, sie empfinde gar nichts, die Bilder machten keinerlei Eindruck auf sie; sie verstehe nicht, warum ich einen Abbruch vorschlage!
Wie ich in der Folgezeit erfuhr, hatte die junge Frau sehr wenig Freunde und lebte nur für ihre Arbeit. Meiner Gruppe war sie unsympathisch, auch wenn keiner wirklich wusste, warum eigentlich. Weil sie zu oft nur von sich selber sprach und den Menschen in ihrer Umgebung gleichgültig gegenüberstand? Ihrerseits verstand sie überhaupt nicht, warum ihr keine höhere Wertschätzung entgegengebracht wurde. In meinen Augen ist und bleibt sie das Paradebeispiel für einen Menschen, bei dem der IQ sehr hoch, der »EQ« jedoch erbärmlich niedrig ist. Ihr Hauptmangel war offenbar, dass sie sich in keiner Weise ihrer Gefühle bewusst und daher für die Gefühle anderer »taub« war. Hinsichtlich ihrer Karriere sah ich ziemlich schwarz. Selbst in den wissenschaftlichsten Disziplinen muss man im Team arbeiten, Bündnisse schließen, seinen Mitarbeitern die richtigen Vorgaben liefern und so weiter. Gleichgültig, auf welchem Gebiet man tätig ist, immer hat man es auch mit anderen Menschen zu tun. Das ist unvermeidlich. Und auf lange Sicht entscheidet unsere Begabung für diese Art von Beziehungen über unseren Erfolg.
Besonders gut veranschaulicht das Verhalten von Kleinkindern, wie schwierig es sein kann, verschiedene Gefühlszustände zu unterscheiden. Meistens weiß ein kleines Kind nicht genau, warum es weint, ob ihm zu heiß ist, ob es Hunger hat, ob es traurig ist oder einfach weil es nach einem langen, mit Spielen verbrachten Tag müde ist. Es weint, ohne genau zu wissen, warum, und weiß auch nicht, was es machen muss, um sich besser zu fühlen. In einer solchen Situation fühlt ein Erwachsener, dessen emotionale Intelligenz unterentwickelt ist, sich leicht überfordert, weil er das Gefühl des Kindes nicht identifizieren, folglich auch nicht auf sein Bedürfnis reagieren kann. Andere Personen, die über eine höher entwickelte emotionale Intelligenz verfügen, wissen hingegen, was zu tun ist, um ein Kind ohne große Schwierigkeiten zu beruhigen. So wird oft Françoise Dolto beschrieben, die sich darauf verstand, mit einer einzigen Geste oder einem einzigen Wort ein Kind zu beruhigen, das seit Tagen weinte: eine Virtuosin der emotionalen Intelligenz.
Bei Erwachsenen ist eine solche Unfähigkeit, klar zwischen verschiedenen Gefühlszuständen zu unterscheiden, gar nicht so selten. Ich habe sie bei einigen Assistenzärzten in meinem Krankenhaus in den USA festgestellt. Sie standen unter Stress, weil ihre Arbeitstage schier endlos waren, waren erschöpft vom Nachtdienst, der jeden vierten Tag fällig war, und kompensierten das durch viel zu viel Essen. Wenn also ihr Körper ihnen signalisierte, »Ich brauche eine Pause und ein wenig Schlaf«, dann hörten sie nur, »Ich brauche«, und reagierten auf diesen Wunsch mit dem einzigen, das sofort verfügbar ist: dem Fastfood, das in jedem amerikanischen Krankenhaus rund um die Uhr zu kriegen ist. In einer solchen Situation eine emotionale Intelligenz an den Tag zu legen bedeutet, die von der Forschergruppe in Yale beschriebenen vier Fähigkeiten einzusetzen: zunächst den jeweiligen Zustand zu identifizieren (Müdigkeit, nicht Hunger), den Ablauf zu kennen (das kommt und geht den lieben langen Tag so, wenn man zu viel von seinem Organismus fordert; ein wenig später wird es einem zweifelsohne besser gehen), nachzudenken (es bringt überhaupt nichts, wenn ich jetzt noch ein Eis esse; im Gegenteil, das wäre nur eine zusätzliche Belastung für meinen Organismus, und darüber hinaus hätte ich ein schlechtes Gewissen) und schließlich auf angemessene Weise auf die Situation zu reagieren (indem man lernt, wie man den Müdigkeitsanfall vorbeigehen lässt, oder indem man eine »Meditationspause«, vielleicht sogar eine Siesta von zwanzig Minuten einlegt; dafür findet man immer die notwendige Zeit, und es gibt einem mehr neue Kraft als der x-te Kaffee oder eine halbe Tafel Schokolade).
Dieser Fall mag trivial erscheinen, aber die Situation ist eben deswegen interessant, weil sie zwar schrecklich banal, gleichzeitig aber äußerst schwer zu meistern ist. Die meisten Spezialisten für Ernährung und Fettleibigkeit sind sich in einem Punkt einig: Einer der Hauptgründe für eine Gewichtszunahme ist in einer Gesellschaft, in der Stress allgegenwärtig ist und viel zu oft mit Essen darauf reagiert wird, dass man nur schlecht mit seinen Gefühlen zurechtkommt. Diejenigen, die gelernt haben, mit Stress umzugehen, haben normalerweise keine Gewichtsprobleme, denn sie haben auch gelernt, auf ihren Körper zu hören, ihre Gefühle zu erkennen und intelligent darauf zu reagieren.
Golemans These lautet, dass der richtige Umgang mit der emotionalen Intelligenz ein besseres Unterpfand für Erfolg im Leben ist als der IQ. Im Rahmen einer der bemerkenswertesten Untersuchungen zu der Frage, was eine Voraussage von Erfolg ermöglicht, beobachteten Psychologen nahezu hundert Harvard-Studenten seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.4 Ihre intellektuellen Leistungen in Alter von zwanzig Jahren ermöglichten in keinster Weise eine Voraussage, wie hoch ihr zukünftiges Gehalt sein werde, welche Leistungsfähigkeit sie später an den Tag legen und in welchem Maße sie von ihren Kollegen anerkannt würden. Bei denjenigen, die an der Universität die besten Noten gehabt hatten, war das Familienleben keineswegs am harmonischsten, und sie hatten durchaus nicht die meisten Freunde. Ganz im Gegenteil: Eine Studie zu Kindern in einem armen Vorort von Boston legt den Schluss nahe, dass der »Gefühlsquotient« eine große Rolle spielt – am besten sagte nicht der IQ ihren Erfolg als Erwachsene voraus, sondern ihre Fähigkeit, im Verlauf einer schwierigen Kindheit ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, angemessen auf ihre Benachteiligung zu reagieren und mit den anderen zusammenzuarbeiten.5
JENSEITS VON FREUD UND DARWIN:
DIE DRITTE REVOLUTION IN DER PSYCHOLOGIE
Zwei große Theorien beherrschten die Psychologie des 20. Jahrhunderts: die Darwinsche und die von Freud. Es dauerte fast hundert Jahre, bis ihre Zusammenführung jetzt zu einer völlig neuen Betrachtungsweise der emotionalen Balance führt.
In den Augen Darwins schreitet die Evolution einer Spezies durch die sukzessive Hinzufügung neuer Strukturen und Funktionen voran. Jeder Organismus hat daher die körperlichen Merkmale seiner Vorfahren und zusätzlich einige andere. Da die Trennung der Entwicklungslinien des Menschen und der Menschenaffen im Rahmen der Evolution der Spezies erst sehr spät erfolgte, ist der Mensch in gewisser Hinsicht die »verbesserte Ausgabe eines Menschenaffen«II. Der Menschenaffe seinerseits hat zahlreiche Eigenschaften mit allen anderen Säugetieren gemein, die einen gemeinsamen Vorfahren haben, und so geht es die ganze lange Kette der Evolution hinunter.
Wie bei archäologischen Grabungen lässt sich diese sukzessive Evolution in Anatomie und Physiologie des menschlichen Gehirns schichtenweise nachvollziehen. Die tief liegenden Strukturen des Gehirns sind mit denen der Menschenaffen, bestimmte, nämlich die am tiefsten liegenden, sogar mit denen von Reptilien identisch. Im Gegensatz dazu sind die Strukturen aus der jüngsten Evolutionsphase, etwa der präfrontale Kortex (hinter der Stirn) nur beim Menschen derart hoch entwickelt. Aus diesem Grund unterscheidet die vorgewölbte Stirn das Gesicht des Homo sapiens so klar und deutlich von dem seiner den Menschenaffen am nächsten verwandten Vorfahren. Was Darwin verkündete, war dermaßen revolutionär und beunruhigend, dass die entsprechenden Schlussfolgerungen erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts wirklich akzeptiert wurden: Wir sind dazu verdammt, mit einem Gehirn im Inneren unseres Gehirns zu leben, das dem der in der Evolutionsreihe unter uns stehenden Tiere entspricht.
Freud seinerseits betonte die Existenz eines Teilbereichs des psychischen Lebens, den er als »das Unbewusste« bezeichnete und folgendermaßen definierte: das, was sich nicht nur der bewussten Beachtung, sondern darüber hinaus auch der Vernunft entzieht. Von der Ausbildung her Neurologe, konnte Freud sich nie dazu entschließen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass seine Theorien sich möglicherweise nicht in Begriffen von Gehirnstrukturen und -funktionen erklären ließen. Da er nicht über dasselbe Wissen hinsichtlich der Anatomie des Gehirns (seiner Architektur) und vor allem seiner Physiologie (seiner Funktionsweise) verfügte wie wir heutzutage, war es ihm unmöglich, auf diesem Weg weiterzukommen. Sein Versuch, die beiden Bereiche miteinander in Einklang zu bringen