Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert HuesmannЧитать онлайн книгу.
werde, zu besuchen. – Mit ihren Äußerungen beklagt sie nicht nur erneut die von ihr als eine Zeit der Gefangenschaft empfundenen Jahre in New York, sie distanziert sich darüber hinaus von dem ganzen Land, dem sie implizit vorwirft, seinen Einwanderern bei ihrer Ankunft mit dem in Bronze gegossenen Pathos der Freiheitsstatue ein utopisches Bild vom Leben in den USA zu vermitteln. Gleichzeitig identifiziert sie sich mit ihrem Herkunftsland Deutschland und seiner Sprache als einem wesentlichen Merkmal kultureller Identität und lässt damit deutlicher erkennen, was sie unter jener in dem Gespräch mit John Dee erwähnten „guerre intérieure“ versteht. Sie war zwar während der Schreckensjahre nicht in ihrer Heimat, betrachtet diese Zeit jedoch als eine „[…] vie de fausseté“14 und sucht daher nach einem neuen Weg.
Dabei erweist sich für Mariane ein Blick auf die Gesellschaft an Bord des Schiffes eher als verwirrend.15 Während Joan Hawks und andere Angehörige der Schickeria sich in oberflächlicher Selbstzufriedenheit einem trivialen musikalischen Vergnügen hingeben – […] chacun paraissait se contenter de la surface sans chercher à voir dessous – 16, diskutieren Hans Vögli und John Dee ernsthaft über die Einheit Deutschlands, die der Eine befürwortet, der Andere strikt ablehnt. Mariane entdeckt Bezüge zwischen dieser röntgenhaft „unter die Haut gehenden“, tiefschürfenden Analyse und der europäischen Trümmerlandschaft und sieht sich selbst als Gefangene, eingeschlossen und ohne Hoffnung auf Befreiung: „[…] elle se sentait cernée, entourée de grillages ou de fils barbelés, et frapper à une porte qui ne s’ouvrirait pas puisqu’elle n’existait pas.“17 Ihre Suche nach Wahrheit droht zu scheitern, auch angesichts ihrer eigenen Vergangenheit und im Anblick einer lächelnden, alle Umgangsformen respektierenden Gesellschaft: „Sa quête de vérité se désintégrait – quelle vérité, vingt années de mensonge et les ruines, partout – et au milieu du désastre, tout le monde souriait, en tenue impeccable.“18
In ihrem eigenen Innern tobt eine „guerre intérieure“ um die Frage nach persönlicher Schuld und Verantwortung, die in einen Entschluss zum Handeln einmündet. Für Mariane bedeutet dies die Verpflichtung zum Aufbruch in die Richtung ihrer alten Heimat. Die Erinnerung an ihren Sohn John wirkt immer wieder belastend, vermag sie aber nicht zurückzuhalten.
Wie sehr die Teilung der Welt in zwei Hälften gerade auch die Deutschen in ihren konkreten Lebensvollzügen treffen wird, sagt John Dee voraus, wenn er der sich nach dem Gebrauch ihrer Muttersprache sehnenden Mariane erklärt: „[…] et dans votre pays, Mariane, ce qui va se passer, un pays coupé en deux, une ville coupée en deux. Il y aura des familles, des amis qui ne pourront plus se voir ou qui devront traverser une frontière, présenter des papiers pour parler la même langue.“19
Mariane, die zum Zeitpunkt ihrer Rückreise seit 20 Jahren nicht mehr Deutsch gesprochen hat, erinnert sich, vor sechs oder sieben Jahren die Bände I und II von Thomas Manns Joseph und seine Brüder in einer Bücherei in Manhattan erstanden zu haben.20 Für sie war dieser Kauf, obwohl es sich um eine englische Übersetzung handelte, „[…] le signe qu’elle attendait depuis des années, une lumière dans ses ténèbres […] comme la terre d’un nouveau continent que l’on va aborder“21. An Bord des Schiffes ist der Exilant Thomas Mann, Autor eines Romans über den alttestamentarischen Exilanten Joseph, dessen Auslieferung durch seine Brüder an einen ismaelitischen Sklavenhändler der Exilant Peter Lemm mit den „mariages arrangés“ Marianes und Judiths vergleicht, für sie eine Person, deren Anwesenheit „[…] lui indiquait la voie à suivre“22. Als einziges Buch hat sie diesen Roman mitgenommen, da die in ihm bezeugte „[…] existence de voies impénétrables, de chemins détournés […]“ ihrer „[…] vision du monde […]“23 entspricht. So stellt sie sich vor, dass, sollte sie Thomas Mann auf der Schiffsbrücke treffen, sie ihm folgendes sagen würde:
C’est en lisant Joseph […] que j’ai compris qu’il fallait partir pour vivre. […] Joseph est parti, il a quitté son père, et puis ses frères, et lui qui, dans son pays, n’était qu’un membre de la famille, là-bas, en Égypte, descendu au plus bas il montait au plus haut, il observait les dieux, leurs coutumes et leurs songes, il expliquait les choses autrement, et son regard étranger éclaircissait le monde. Car le départ ne suffit pas, il faut en faire quelque chose, et moi, je n’ai rien décidé au cours de ma vie – ma première décision (Hervorhebung H.H.), je l’ai prise il y a quelques jours, et ce fut de partir, aussi. Vous voyez, c’est pour cela que je crois que John a eu raison.24
Mariane fühlt sich dem Schicksal Josephs verbunden, insofern sie und er im Alter von 18 Jahren ihre Heimat verlassen mussten. Darüber hinaus wird er für sie zu einem beneideten Vorbild, da er sich, anders als sie, die sich in ihrer Ehe und in ihrem ganzen Leben in New York unfrei fühlte, in seiner neuen Heimat Ägypten nicht von der Gesellschaft isolierte, sondern die Autoritäten und Bräuche des Landes achtete und bekanntlich bis zum angesehenen Berater des Pharaos aufstieg. Als seine Brüder in einer Zeit der Hungersnot nach Ägypten kamen und ihn um Hilfe baten, fanden sie bei ihm „[…] la nourriture matérielle et spirituelle […]“25, also eine nicht nur den leiblichen, sondern auch den geistigen Hunger stillende Nahrung. Und als die Brüder ihn schließlich zu ihrem Vater Jakob kurz vor dessen Tod in die Heimat zurückführten, bedeutete dies für alle, dass „[…] l’unité s’était reformée […]“26. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Entscheidung Marianes zum Aufbruch ihren – verspäteten – Eintritt in die Selbstständigkeit des Erwachsenenalters. Ihre verständnisvolle Hinnahme des Verschwindens ihres Sohnes ist nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie: Da sie ihrem Sohn ein Leben des Stillstands und der Erstarrung ersparen will, das dem ihrigen ähnelt, heißt sie seinen unangekündigten, die Eltern in Ratlosigkeit stürzenden Aufbruch nachträglich gut.
2.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung
Die Reise Marianes (und Judiths) von Heidelberg nach New York bedeutet für die Mädchen einen Wechsel in einen anderen Kulturraum, insofern sie eine Grenze überschreiten, die als topographisch, sprachlich und semantisch kodiert einzustufen ist. Die Grenze ist jedoch nicht von vornherein als „unüberwindlich“ im Sinne Lotmans zu bezeichnen, da vor der – von den Eltern veranlassten – Reise weder erkennbare Hindernisse institutioneller Art noch eine Weigerungshaltung der Mädchen erkennbar sind. Wohl aber erweist sich der Aufenthalt in New York für Mariane von Anfang an als krasses Gegenteil der erhofften Befreiung aus der (vermeintlichen) provinziellen Enge Heidelbergs. In einem von ihr auf der Rückfahrt nach Europa an Bord des Schiffes imaginierten Dialog mit Judith sagt sie: „[…] car tu ne t’imagines pas à quel point ma vie était fermée, de tous côtés […].“1 Mit dem räumlich inspirierten Bild der „vie fermée“ suggeriert sie, dass die Jahre in New York für sie eine Zeit der Unfreiheit und Fremdbestimmung waren. Zu einer eindeutig „beweglichen Figur“ wird Mariane erst durch die in B 2.3.3 zitierte „première décision“, die erste bewusst von ihr selbst getroffene Entscheidung, mit der sie sich, zusätzlich belastet und beunruhigt durch das plötzliche Verschwinden ihres Sohnes, aus ihrer zwanzigjährigen Gefangenschaft losreißt, indem sie sich zum Aufbruch, zur Rückkehr nach Europa entschließt.
Wenn sie auf der Rückfahrt an Bord des Schiffes in dem o.g. „Zwiegespräch“ mit Judith auch an Heidelberg denkt, nicht an das Heidelberg ihrer Jugend, sondern an das Heidelberg ihrer Gegenwart, in dem die Ruine des Schlosses die Ruinen des Weltkriegs überragt und wie ein mächtiges chronotopisches Signal Zukunft verheißt, in dem sie sich über den Fluss beugen möchte, um aus ihrem Spiegelbild einen Hinweis auf ihre Zukunft abzulesen, „verräumlichen“ sich ihre Zeit- und Zielvorstellungen in einer traumhaft anmutenden Rückbesinnung auf die Stadt ihrer Herkunft. Gleichzeitig erinnert sie sich neidvoll an die Heidelberger Studenten, deren Leben mit seiner Freiheit und geistigen Entdeckerfreude sie gerne geteilt hätte: „Et moi, je les enviais, j’aurais voulu faire des études, un jour, comme eux, passer ma vie avec les livres, les lire et les expliquer.“2 Obwohl der Text keine definitive Auskunft darüber gibt, wohin dieser Aufbruch Mariane führen wird, ist ein Gespräch aufschlussreich und richtungweisend, das Hans Vögli, dessen ebenfalls Mariane heißende Frau vor Jahren verstorben ist, mit ihr führt. In einer durch interne Fokalisierung geprägten Passage stellt die Erzählinstanz – aus der Perspektive Vöglis – die Frage, ob Mariane begriffen hat, was sie verloren