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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav SchwabЧитать онлайн книгу.

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil - Gustav  Schwab


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Seiten ausgegossen wurden, ließen

       sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an, von dem herumschwimmenden

       Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen. Und allen übrigen schadete das Trankopfer nicht; nur

       die eine Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen ersten Becher ausgegossen,

       schüttelte, sowie sie den Trank gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäste,

       zu ächzen und zu toben an und starb unter Flügelschlag und Zuckungen. Da erhub sich Ion von

       seinem Sitze, streifte sein Gewand zürnend von den Armen, ballte die Fäuste und rief. »Wo ist der

       Mensch, der mich töten wollte? Rede, Alter! denn du hast deine Hand dazu geliehen, du hast mir den

       Trank gemischt!« Damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder loszulassen. Dieser,

       überrascht und erschrocken, gestand die ganze Freveltat als von Krëusen herrührend. Da verließ der

       durch Apollos Orakel für des Xuthos Sohn erklärte Ion das Zelt, und alle Gäste folgten ihm in wilder

       Aufregung nach. Als er draußen im Freien stand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmsten

       Delphiern, und sprach: »Heilige Erde, du bist mein Zeuge, daß dieses fremde Erechthidenweib mich

       mit Gift aus dem Wege räumen will!« »Steiniget, steiniget sie!« erscholl es von der Versammlung der

       Delphier wie aus einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu suchen.

       Xuthos selbst, dem die schreckliche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde von dem

       Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was er tat.

       Krëusa hatte am Altar Apollos die Früchte ihrer verzweifelten Tat erwartet. Diese aber keimten ganz

       anders auf, als sie vermutet hatte. Ein Tosen aus der Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf,

       und noch ehe es ganz nahe kam, war dem heranstürmenden Haufen einer der Knechte ihres

       Gemahls, der ihr selbst vor andern getreu war, vorangeeilt und hatte kaum Zeit gehabt, die

       Entdeckung ihres Frevels und den Beschluß, den das Volk von Delphi gefaßt hatte, ihr zu melden. Ihre

       Dienerinnen scharten sich um sie. »Halte dich fest am Altare, Gebieterin«, riefen sie, »denn sollte

       dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern schützen, so werden sie doch durch deine

       Ermordung eine unsühnbare Blutschuld auf sich laden!« Indessen kam die tobende Schar der

       Delphier, von Ion angeführt, dem Altare immer näher. Noch ehe sie bei demselben angelangt waren,

       hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Lüfte führte: »Die Götter haben es

       gut mit mir gemeint«, rief er in lautem Grimme, »daß dieser Frevel mich von der Stiefmutter befreien

       sollte, die mich zu Athen erwartete. Wo ist die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit

       dem todspeienden Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchsten Felsen in den Abgrund

       gestürzt werde!« Das ihn begleitende Volk brüllte Beifall.

       Jetzt waren sie am Altare angekommen, und Ion zerrte an der Frau, die seine Mutter war und in der

       er nur seine Todfeindin erkannte, um sie von dem Asyl, auf dessen Heiligkeit und Unverletzlichkeit sie

       sich berief, hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß sein eigener Sohn der Mörder seiner

       Mutter würde. Auf seinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten Verbrechen Krëusens

       und der Strafe, welche sie dafür erwartete, schnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Priesterin

       gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn erleuchtet, so daß sie einen raschen Blick in den

       Zusammenhang aller Ereignisse warf und ihr plötzlich klar wurde, daß ihr Pflegling Ion nicht des

       Xuthos, wie sie selbst nebelhaft prophezeit hatte, sondern Apollos und Krëusas Sohn sei. Sie verließ

       den Dreifuß und suchte das Kistchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe samt einigen

       Erkennungszeichen, die sie gleichfalls sorgsam aufbewahrt hatte, einst zu Delphi vor dem Tempeltor

       ausgesetzt worden war. Mit diesem im Arme, eilte sie ins Freie und nach dem Altare, wo Krëusa

       gegen den eindringenden Ion um ihr Leben kämpfte. Als Ion die Priesterin herannahen sah, ließ er

       sogleich von seiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief. »Sei mir willkommen, liebe

       Mutter, denn so muß ich dich nennen, obgleich du mich nicht geboren hast! Hörst du, welchen

       Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die

       böse Stiefmutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was soll ich tun; denn deiner Mahnung will

       ich folgen!« Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach: »Ion, geh mit unbefleckter Hand

       und unter günstigen Vogelzeichen nach Athen!« Ion besann sich eine Weile, eh er antwortete. »Ist

       denn der nicht fleckenlos«, sprach er endlich, »der seine Feinde tötet?« »Tue du nicht also, bist du

       mich gehört hast«, sagte die ehrwürdige Frau. »Siehst du dies alte Körbchen, das ich, mit frischen

       Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In diesem bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm

       habe ich dich hervorgezogen.« Ion staunte. »Davon Mutter«, sprach er, »hast du mir nie etwas

       gesagt. Warum hast du es so lange vor mir verborgen?« »Weil der Gott«, antwortete die Priesterin,

       »dich bis hierher zu seinem Priester haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben hat, entläßt er

       dich nach Athen.« »Was soll mir aber dieses Kistchen helfen?« fragte Ion weiter. »Es enthält die

       Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber Sohn!« antwortete die Priesterin. »Meine

       Windeln?« sprach Ion heftig. »Nun, das ist ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen

       kann. O erwünschte Entdeckung!« Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kistchen hin, und Ion griff

       gierig hinein und zog die reinlich zusammengewickelte Leinwand heraus. Während er seine

       betränten Augen auf die kostbaren Überbleibsel heftete, hatte sich Krëusas Angst allmählich verloren

       und ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit entdeckt. Mit einem Sprunge verließ sie den

       Altar, und mit dem Freudenrufe: »Sohn!« hielt sie den staunenden Ion umschlungen. Diesem schlich

       sich aufs neue Mißtrauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Fremden als eine Hinterlist und

       wollte sich unwillig losmachen. Aber Krëusa selbst raffte sich zusammen, trat einige Schritte zurück

       und sprach: »Diese Leinwand soll für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander; du wirst die

       Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner

       mädchenhaften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß sich das Gorgonenhaupt finden, umringt von

       Schlangen, wie auf dem Ägisschilde!« Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem

       plötzlichen Freudenschrei rief er aus: »O großer Zeus, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!«

       »Noch nicht genug«, sprach Krëusa, »es müssen in dem Kistchen


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