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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav SchwabЧитать онлайн книгу.

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil - Gustav  Schwab


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Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den

       dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu

       schirmen, der Gott, der den Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden

       versendet.« Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den

       Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das

       ganze Land in Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren

       ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen oder in einen Fluß zu stürzen. So

       kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.

       Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer

       Liebe ab‐ und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren

       Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle

       Schritte des Gottes auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr

       Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der

       heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem

       Strome noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da

       kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und sah

       ihn nicht. »Entweder ich täusche mich«, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, »oder ich werde von

       meinem Gatten schnöde gekränkt!« Und nun fuhr sie auf einer Wolke vom hohen Äther zur Erde

       hernieder und gebot dem Nebel, der den Entführer mit seiner Beute umschlossen hielt, zu weichen.

       Zeus hatte die Ankunft seiner Gemahlin geahnt, und um seine Geliebte ihrer Rache zu entziehen,

       verwandelte er die schöne Tochter des Inachos schnell in eine schmucke, schneeweiße Kuh. Aber

       auch so war die Holdselige noch schön geblieben. Hera, welche die List ihres Gemahls alsbald

       durchschaut hatte, pries das stattliche Tier und fragte, als wüßte sie nichts von der Wahrheit, wem

       die Kuh gehöre, von wannen und welcherlei Zucht sie sei. Zeus, in der Not und um sie von weiterer

       Nachfrage abzuschrecken, nahm seine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh entstamme der

       Erde. Hera gab sich damit zufrieden, aber sie bat sich das schöne Tier von ihrem Gemahl zum

       Geschenke aus. Was sollte der betrogene Betrüger machen? Gibt er die Kuh her, so wird er seiner

       Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche

       der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn, für den

       Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für

       unentdeckt hielt, seiner Gemahlin. Hera knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen

       Tier ein Band um den Hals und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der

       Tiergestalt schlug, im Triumphe davon. Doch machte der Göttin dieser Diebstahl selbst Angst, und sie

       ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den

       Argos, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungetüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien.

       Denn Argos hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloß

       und der Ruhe ergab, während die übrigen alle, über Vorder‐ und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne

       zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Hera der armen Io zum Wächter, damit ihr

       Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io,

       die Kuh, des Tags über auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich

       immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute; auch wenn er sich abwandte und ihr das

       Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloß er sie

       ein und belastete den Hals der Unglückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub waren ihre

       Speise, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank schlammige

       Pfützen. Io vergaß oft, daß sie kein Mensch mehr war; sie wollte, Mitleiden erflehend, ihre Arme zu

       Argos erheben, da ward sie erst daran erinnert, daß sie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in

       Worten rührende Bitten vortragen, dann entfuhr ihrem Munde ein Brüllen, daß sie vor ihrer eigenen

       Stimme erschrak, welche sie daran mahnte, wie sie durch ihres Räubers Selbstsucht in ein Tier

       verwandelt worden sei. Doch blieb Argos mit ihr nicht an einer Stelle, denn so hatte es ihn Hera

       geheißen, die durch Veränderung ihres Aufenthalts sie dem Gemahl um so gewisser zu entziehen

       hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im Lande herum, und so kam sie auch mit ihm in ihre alte

       Heimat, an das Gestade des Flusses, wo sie so oft als Kind zu spielen gepflegt hatte. Da sah sie zum

       ersten Mal ihr Bild in der Flut; als das Tierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Wasser entgegenblickte,

       schauderte sie zurück und floh bestürzt vor sich selbst. Ein sehnsüchtiger Trieb führte sie in die Nähe

       ihrer Schwestern, in die Nähe ihres Vaters Inachos; aber diese erkannten sie nicht; Inachos

       streichelte wohl das schöne Tier und reichte ihm Blätter, die er von dem nächsten Strauche pflückte;

       Io beleckte dankbar seine Hand und benetzte sie mit Küssen und heimlichen menschlichen Tränen.

       Aber wen er liebkoste und von wem er geliebkost wurde, das ahnete der Greis nicht. Endlich kam der

       Armen, deren Geist unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an,

       Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen, und erregte durch diese Bewegung die Aufmerksamkeit des

       Vaters, der bald im Staube die Kunde las, daß er sein eigenes Kind vor sich habe. »Ich

       Unglückseliger«, rief der Greis bei dieser Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der

       stöhnenden Tochter hing, »so muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe!

       Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, solange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich

       gefunden habe! Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll

       antworten! Ich Tor, einst sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und

       dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde...« Argos, der grausame

       Wächter, ließ den jammernden Vater nicht vollenden, er riß Io von dem Vater hinweg und schleppte

       sie fort auf einsame Weiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt,

       indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.

       Zeus konnte das Leid der Inachostochter


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