Bahnwärter Thiel. Gerhart HauptmannЧитать онлайн книгу.
stand das schleppende Zeitmaß, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in
seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die
Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas
in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem
aufgewogen erhielt.
Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in
denen er nicht mit sich spaßen ließ. Es war dies immer anläßlich
solcher Dinge, die Tobiäschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges
Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so
unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.
Die Augenblicke indes, darin er diese Seite seines Wesens herauskehrte,
wurden mit der Zeit immer seltener und verloren sich zuletzt ganz. Ein
gewisser leidender Widerstand, den er der Herrschsucht Lenens während
des ersten Jahres entgegengesetzt, verlor sich ebenfalls im zweiten. Er
ging nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit zum Dienst, nachdem er
einen Auftritt mit ihr gehabt, wenn er sie nicht vorher besänftigt
hatte. Er ließ sich am Ende nicht selten herab, sie zu bitten, doch
wieder gut zu sein. -- Nicht wie sonst mehr war ihm sein einsamer Posten
inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt. Die
stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen
an die Lebende durchkreuzt. Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat
er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er
vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.
Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe
verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt
seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr
abhängig. -- Zuzeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung
der Dinge und er bedurfte einer Anzahl außergewöhnlicher Hilfsmittel, um
sich darüber hinweg zu helfen. So erklärte er sein Wärterhäuschen und
die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für
geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet
sein sollte. Mit Hilfe von allerhand Vorwänden war es ihm in der Tat
bisher gelungen, seine Frau davon abzuhalten, ihn dahin zu begleiten.
Er hoffte es auch fernerhin tun zu können. Sie hätte nicht gewußt,
welche Richtung sie einschlagen sollte, um seine »Bude«, deren Nummer
sie nicht einmal kannte, aufzufinden.
Dadurch, daß er die ihm zu Gebote stehende Zeit somit gewissenhaft
zwischen die Lebende und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel sein
Gewissen in der Tat.
Oft freilich und besonders in Augenblicken einsamer Andacht, wenn er
recht innig mit der Verstorbenen verbunden gewesen war, sah er seinen
jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel.
Hatte er Tagdienst, so beschränkte sich sein geistiger Verkehr mit der
Verstorbenen auf eine Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit seines
Zusammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch, wenn der Schneesturm durch die
Kiefern und über die Strecke raste, in tiefer Mitternacht beim Scheine
seiner Laterne, da wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle.
Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch,
Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die
lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden
Bahnzügen unterbrochen, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu
Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.
Der Posten, den der Wärter nun schon zehn volle Jahre ununterbrochen
innehatte, war aber in seiner Abgelegenheit dazu angetan, seine
mystischen Neigungen zu fördern.
Nach allen vier Windrichtungen mindestens durch einen
dreiviertelstündigen Weg von jeder menschlichen Wohnung entfernt, lag
die Bude inmitten des Forstes dicht neben einem Bahnübergang, dessen
Barrieren der Wärter zu bedienen hatte.
Im Sommer vergingen Tage, im Winter Wochen, ohne daß ein menschlicher
Fuß, außer denen des Wärters und seines Kollegen, die Strecke passierte.
Das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten brachten in ihrer
periodischen Wiederkehr fast die einzige Abwechslung in diese Einöde.
Die Ereignisse, welche im übrigen den regelmäßigen Ablauf der Dienstzeit
Thiels außer den beiden Unglücksfällen unterbrochen hatten, waren
unschwer zu überblicken. Vor vier Jahren war der kaiserliche Extrazug,
der den Kaiser nach Breslau gebracht hatte, vorübergejagt. In einer
Winternacht hatte der Schnellzug einen Rehbock überfahren. An einem
heißen Sommertage hatte Thiel bei seiner Streckenrevision eine verkorkte
Weinflasche gefunden, die sich glühend heiß anfaßte und deren Inhalt
deshalb von ihm für sehr gut gehalten wurde, weil er nach Entfernung des
Korkes einer Fontäne gleich herausquoll, also augenscheinlich gegoren
war. Diese Flasche, von Thiel in den seichten Rand eines Waldsees
gelegt, um abzukühlen, war von dort auf irgend welche Weise abhanden
gekommen, so daß er noch nach Jahren ihren Verlust bedauern mußte.
Einige Zerstreuung vermittelte dem Wärter ein Brunnen dicht hinter
seinem Häuschen. Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe beschäftigte Bahn-
oder Telegraphenarbeiter einen Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes
Gespräch mit unterlief. Auch der Förster kam zuweilen, um seinen Durst
zu löschen.
Tobias entwickelte sich nur langsam: erst gegen Ablauf seines zweiten
Lebensjahres lernte er notdürftig sprechen und gehen. Dem Vater bewies
er eine ganz besondere Zuneigung. Wie er verständiger wurde, erwachte
auch die alte Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie diese zunahm,
verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in
unverkennbare Abneigung um, als Lene nach Verlauf eines neuen Jahres
ebenfalls